Rezension (5/5*) zu Linden Hills: Roman von Gloria Naylor

Renie

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19. Mai 2014
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Buchinformationen und Rezensionen zu Linden Hills: Roman von Gloria Naylor
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Teuflisch gut

Einst hatte Luther Nedeed den Traum von einem schwarzen Ort für Schwarze. Zu welcher Realität dieser Traum geworden ist, erzählt der Roman „Linden Hills" von Gloria Naylor.
Die Nedeeds herrschen bereits seit mehreren Generationen über Linden Hills. Der erste Luther in einer Reihe nachfolgender Luther Nedeeds legte den Grundstein für die Umsetzung der Idee, einen Ort für Schwarze zu schaffen. Er muss in einer Zeit gelebt haben, als es in anderen Teilen Amerikas noch Sklaverei gab. Denn Luther kauft sich eine Ehefrau, bekommt mit ihr einen Sohn, Luther junior. Weitere Kinder wird es nicht geben. Dieses Familienkonstrukt wird über die nächsten Generationen beibehalten. Aus den Juniors werden Seniors, der Name Luther Nedeed wird fortbestehen, die Luthers herrschen und wachen über Linden Hills, das sich mittlerweile zu einer reichen Wohlgegend entwickelt hat. Wer etwas auf sich hält und es sich leisten kann, möchte hier wohnen. Doch Luther Nedeed, als Vorsitzender der Verpachtungsgesellschaft, entscheidet darüber, wer zu den Auserwählten gehört.
In Linden Hills leben ausschließlich Schwarze. Auf den ersten Blick ist Luthers Plan also aufgegangen. Doch die Bewohner Linden Hills haben über die Jahre ihre Identität verloren, indem sie sich zu einer Gesellschaft entwickelt haben, für die es das Wichtigste ist, ihren Wohlstand sowie ihr gesellschaftliches Ansehen zu wahren. Sie orientieren sich dabei an weißen Amerikanern und entwickeln sich auf Linden Hills zu besseren Weißen. Die schwarze Hautfarbe wird zum Makel, den der Reichtum überdecken soll.
Die Handlung von „Linden Hills" findet über einen Zeitraum von nur wenigen Tagen statt, mit Rückblicken in die Vergangenheit. Wir begegnen einigen Bewohnern von Linden Hills in der Woche vor Weihnachten. Erzählt wird dabei aus den Perspektiven verschiedener Personen. Viele tauchen in diesem Roman einmalig auf, andere wiederum immer wieder, allen voran Willie und Lester, Anfang 20, beste Freunde seit der Schulzeit, auch wenn sie aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten kommen. Lester lebt zwar mit seiner Familie am Rande von Linden Hills, gehört aber immer noch zur gehobenen Gesellschaft. Willie hingegen kommt aus dem Armenviertel am Fuße von Linden Hills. Im Verlauf der Handlung werden sie sich als Beobachter der Geschehnisse in Linden Hills erweisen und sich ihre Gedanken über die Menschen und einem Leben in den Hills machen. Insbesondere Willie zeigt sich dabei als empathischer Mensch mit einem Gewissen - Eigenschaften, die den meisten Bewohnern von Linden Hills abhandengekommen sind.
Der aktuelle Luther Nedeed ist diejenige Figur in diesem Roman, um die sich alles und alle drehen. Er ist ein skrupelloser Zyniker mit einer bedrohlichen und unheimlichen Aura. Dort, wo er auftaucht, sind die Menschen eingeschüchtert oder buhlen um seine Gunst, mit der er allerdings sehr knauserig ist. Der Mann hat eine dunkle Seele und hütet ein dunkles Geheimnis, das die Leser schnell erkennen - womit sie den Bewohnern von Linden Hills einiges voraushaben.
Lester und Willie sind während der Tage vor Weihnachten in Linden Hills unterwegs und erledigen Gelegenheitsjobs für ein paar Bewohner. Am Ende werden sie auch für Luther Nedeed arbeiten und dabei sein Geheimnis aufdecken.
„Linden Hills“ ist ein Roman, der durchgängig gegen die Erwartungshaltung des Lesers ankämpft. Eine schwarze Autorin schreibt eine Geschichte über eine schwarze Gesellschaft. Da liegt doch auf der Hand, dass es sich hierbei um einen Roman handelt, der das Thema „Rassismus“ im Fokus hat. Doch ganz so ist es nicht, in Linden Hills wird zwar diskriminiert, doch sicher nicht wegen der Hautfarbe. Es reicht aus, das falsche Geschlecht zu haben oder der falschen Gesellschaftsschicht anzugehören. Je tiefer man in die Handlung dieses Romans einsteigt, umso mehr festigt sich der Gedanken, dass Gloria Naylor das Wohlstands- und Statusdenken der Gesellschaft von Linden Hills vorführt und den egoistischen Kampf dieser Gesellschaft, diesen Wohlstand mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln zu wahren. Dabei ist der Roman „Linden Hills“ unglaublich spannend und hat mich mit seinen überraschenden Wendungen und verblüffenden Cliffhangern gefesselt. Auch diese Überraschungsmomente laufen entgegen der Erwartungshaltung des Lesers, gerade weil sie der Handlung Wendungen geben, die völlig abwegig und kaum vorstellbar sind.
Dabei ergeben sich viele Ungereimtheiten und Fragen, wobei Gloria Naylor dem Leser nicht den Gefallen tut und Antworten liefert. So sieht sich der Leser in der Situation, eigene Antworten entwickeln zu müssen, indem er reflektiert und spekuliert. Für den einen Leser mag dies unbequem sein, und er fühlt sich mit diesem Roman nicht wohl. Andere Leser wiederum werden diese Eigenart des Romans als Bereicherung empfinden. Ich zähle mich zu letzteren!
Daher lautet mein Fazit: „Linden Hills“ – ein Roman, der gegen die Erwartungen des Lesers ankämpft und gewinnt!