Rezension (5/5*) zu Linden Hills: Roman von Gloria Naylor

Literaturhexle

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2. April 2017
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50.100
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Buchinformationen und Rezensionen zu Linden Hills: Roman von Gloria Naylor
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Urteile nicht nach dem äußeren Schein

Acht Ringstraßen winden sich am Wohnhügel Linden Hills hinunter. Je weiter man nach unten kommt, desto attraktiver ist die Wohnlage, desto exquisiter die Nachbarschaft. In Linden Hills dürfen nur Schwarze wohnen. Dafür hat der erste Luther Nedeed vor rund 200 Jahren gesorgt, als er sich den Hügel sicherte und mit einem ausgeklügelten System dafür sorgte, dass die Grundstücke nur an ausgesuchte schwarze Familien für eine nahezu unendliche Mietdauer vergeben wurden. Was mit viel gutem Willen anfing, hat sich im Laufe der Zeit fast ins Gegenteil verkehrt: Der aktuelle Luther Nedeed (in jeder Generation gibt es genau einen Träger dieses Namens) ist nämlich ein machtbesessener Despot, der nicht nur seine Ehefrau unterdrückt und seinen Sohn verleugnet, sondern auch den gesamten Wohnhügel mit eiserner Hand regiert. Vergleiche mit dem Leibhaftigen kommen nicht von ungefähr. Wer es in Linden Hills zu etwas bringen will, muss sich den dortigen Gepflogenheiten anpassen und der Nedeed´schen Doktrin unterwerfen.

Was das im Einzelnen bedeutet, bekommt der Leser auf seiner Reise durch diesen Roman eindrücklich gezeigt. Zeremonienmeister sind dabei Willie und Lester, zwei sympathische junge Tunichtgute, die ihre Ausbildung vernachlässigen, Gedichte lieben und sich in den Vorweihnachtstagen ein paar Dollar verdienen wollen. Was liegt näher, als ihre Arbeitskraft in den Dienst der gut betuchten Bewohner von Linden Hills zu stellen? Die beiden netten Kerle finden die ein oder andere Aufgabe, bleiben dabei aber meist im Hintergrund, von wo aus sie einen guten Blick auf das Geschehen haben. Egal ob Hochzeit, Trauerfeier, Gartenarbeit oder Weihnachtsvorbereitungen – Willie und Lester packen an und bekommen dabei tiefe Einblicke in die Gesellschaft. Insbesondere Willie ist ein nachdenklicher Beobachter, der mit seiner guten Menschenkenntnis stets hinter die Kulissen schaut, Geheimnisse lüftet und Fassaden demaskiert. Zum Glück lässt er uns, die Leser, an seinen Überlegungen teilhaben, so dass wir einen dezidierten Eindruck der verdrehten Welt von Linden Hills bekommen, in der Farbschattierungen über Aufstieg und Status entscheiden und in der es ähnliche Vorurteile und Diskriminierungen gibt wie in der weißen Community. Die einzelnen Erlebnisse der beiden Protagonisten stehen nur vordergründig für sich und im Zusammenhang.

Während der Lektüre wandert man gemeinsam mit den zwei Helden den Hügel hinunter. So rückt man immer näher an den Regenten Luther Nedeed heran, der in der untersten Ringstraße lebt, wo er selbst dunkle Geheimnisse hütet. Spannend verzahnt sich dessen Schauergeschichte mit dem Arbeitsalltag von Lester und Willie. Alles steuert auf einen Showdown zu, gekonnt gesetzte Cliffhanger steigern den Spannungsbogen in Richtung Heiligabend erheblich…

Gloria Naylor sprüht dabei vor Ideenreichtum. Über zu wenig Handlung kann man sich in diesem Roman nicht beklagen, ständig gibt es überraschende Wendungen. Naylor beschreibt ihre Schauplätze bildhaft. Man begegnet Figuren, die sie mit großer Hingabe konzipiert. Verschiedene Perspektiven liefern dabei einen Blick auf die komplexen Charaktere. In den dichten Text sind kluge, humorvolle Dialoge eingebunden, immer wieder blitzen poetische Sätze oder zeitlose Weisheiten auf. Man kann diesen außergewöhnlichen Sprachstil nur bewundern, der das gründliche Lesen und Hinschauen belohnt. Wie viele Literaten hat auch Naylor literarische Bezüge in den Roman eingeflochten. Besonders erwähnenswert ist die Parallele zum Inferno aus der Göttlichen Komödie von Dante Alighieri. Ich möchte aber betonen, dass die Kenntnis des Stückes lediglich eine weitere Deutungsebene eröffnet und keinesfalls Voraussetzung für das Verständnis des Romans ist.

Ich lese den Roman als einen Appell an die Mitmenschlichkeit. Im Mittelpunkt steht immer das Individuum, das Entscheidungen trifft. Nicht Schwarz oder Weiß sind entscheidend, sondern der individuelle Charakter als solcher. Jeder kann zur Überwindung der bestehenden Grenzen beitragen, indem er genau hinschaut, Maskeraden entlarvt und als Vorbild agiert.

Die Vielschichtigkeit und Außergewöhnlichkeit dieses Romans haben mich von Beginn an begeistert. (Man möge sich nicht von den ersten 25 Seiten abschrecken lassen, die mancher etwas verwirrend finden könnte.) Als schwarze Autorin hat Naylor einen Plot konstruiert, der sich mit vielen Facetten der Themen Rassismus, Misogynie und Klassenzugehörigkeit beschäftigt. Auf subtile, durchdringende Weise wird daran Kritik geübt - erfreulicherweise gänzlich ohne störende Didaktik. Die Wertung überlässt die Autorin vollständig dem Leser. Linden Hills ist ein Roman, der fordert, nachdenklich macht, spannend ist und dabei bestens unterhält. Für mich ein Highlight des Bücherherbstes 2022.

Das Original dieses zeitlosen Romans ist bereits 1985 erschienen. Dankbar darf man dem schweizerischen Unionsverlag auch für die großartige Übersetzung von Angelika Kaps sein, die Linden Hills nun dem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht hat. Gloria Naylor, die leider schon 2016 verstarb, war eine herausragende Literatin, deren weiteres Werk neugierig macht.

Dringende Lese-Empfehlung!

 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.705
22.132
49
Brandenburg
Es ist schon schade, dass ihre Romane so spät übersetzt wurden. Aber besser spät als nie. Neben James Baldwin eine Bereicherung. Sehr schön gefaßte Rezension; ein bisschen weiche ich ab, aber nicht sehr.
 
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