Rezension Rezension (5/5*) zu Lied der Weite von Kent Haruf.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Wie alles zusammenhängt: Nächstenliebe in den Great Plains

Dieser Roman von Kent Haruf (1943 – 2014) erschien bereits 2001 bei btb unter dem Titel „Flüchtiges Glück“. Offensichtlich war ihm damals nur mäßiger Erfolg beschieden, so dass jetzt, im Jahr 2018, im renommierten Diogenes-Verlag eine Neuauflage erfolgte. Den Weg dazu bereitet hat sicherlich Harufs letzter Roman „Unsere Seelen bei Nacht“, der im vergangenen Jahr auch in Deutschland zum Erfolg mutierte sowie bereits verfilmt wurde.

Rein optisch fügt sich der 377-Seiten starke Roman wunderbar in das Diogenes-Erscheinungsbild ein: Das Covermotiv besteht aus einem weiten Feld, an dessen Ende ein kleines Farmhaus steht, das durchaus in Beziehung zum Roman gesetzt werden kann. Der Hintergrund des Motives ist die bekannte schlicht-beige Diogenes Gestaltung. Unter dem Schutzumschlag ist das Buch mit edel dunkelblauem Leineneinband versehen. Ein kleines Schmuckstück.

Alle Romane Kent Harufs spielen in der fiktiven Kleinstadt Holt im Staat Colorado. Diese Stadt muss in der Nähe der Landeshauptstadt Denver liegen, da letztere mehrfach im Roman erwähnt wird. Holt ist relativ ländlich geprägt.

Der Autor verknüpft in seinem Roman vier Handlungsstränge, die einzelnen Kapitel sind mit der oder den Hauptpersonen überschrieben. Einer davon ist Lehrer Guthrie, der offensichtlich von seiner kranken Frau getrennt lebt und seine beiden Söhne allein erzieht. Jene heißen Ike und Bobby, ihnen ist ein weiterer Erzählstrang gewidmet.
Zunächst hat Victoria Rubideaux (weitere Kapitel-Überschrift) überhaupt nichts mit dieser Familie zu tun. Die vierten Protagonisten sind die McPherons, zwei betagte Brüder, die alleine ihre kleine Rinderfarm bewirtschaften.
Darüber hinaus spielt Maggie, eine Lehrerin und Kollegin von Guthrie, eine wichtige Rolle. Ihr ist zwar keine Kapitelüberschrift gewidmet, sie steht aber zu allen anderen Genannten in Verbindung.

Wir lernen die Familie Guthrie in alltäglichen Situationen kennen. Der Vater managt das Morgenritual. Die Söhne sind an Pflichten gewöhnt und tragen bereits vor Schulbeginn Zeitungen aus. Dadurch kommen sie herum und lernen interessante wie auch einsame Menschen kennen. Selbstverständlich vermissen die beiden ihre Mutter Ella, die zunächst in der Nachbarschaft, später aber bei ihrer Schwester in Denver lebt. Sie bleibt eine recht blasse Person, die an Depressionen zu leiden scheint. Vater Tom ist als Lehrer tätig, auch über seinen beruflichen Alltag, insbesondere über aufkeimende Probleme mit dem schwierigen Schüler Russell Beckman, erfahren wir viel
.
Victoria Rubideaux ist eine 17-jährige Schülerin an Tom Guthries Schule. Sie ist schwanger und wird von ihrer Mutter vor die Tür gesetzt. Zunächst findet sie Unterschlupf bei ihrer Lehrerin Maggie. Als es in deren Wohnung aber Schwierigkeiten mit dem dementen Vater gibt, setzt sich die Lehrerin dafür ein, dass die beiden McPheron-Brüder das Mädchen auf ihrer Farm aufnehmen, was die beiden schweigsamen alten Herren enorm fordert. Irgendwann taucht auch der Kindsvater in Holt auf und sorgt für Turbulenzen…

Es sind diese völlig alltäglichen Schicksale, die sich so tatsächlich ereignet haben könnten. Der Autor führt die Menschen zusammen, erzählt ihre Geschichten und verzahnt die verschiedenen Handlungsstränge miteinander, so dass am Ende das eine mit dem anderen in Verbindung steht. Das tut er auf zutiefst unnachahmliche, menschliche Weise. Hier in Holt begegnet man sich, man hilft sich, man hört einander zu. Der Nachbar ist einem nicht egal. Das lernen schon die Kinder Ike und Bobby. Natürlich sind nicht alle gut, schlechte Menschen gibt es auch. So wird der Leser auch mit Gewalt und Unmoral konfrontiert, die überwiegend in der Familie Beckman beheimatet sind. Das Böse lauert und steigert die Spannung.

Insgesamt habe ich den Roman aber als Wohlfühlroman empfunden. Haruf erzählt in einer wunderbar ruhigen, unaufgeregten Sprache, die herrlich entspannend wirkt. Er beschreibt Orte und Begebenheiten unglaublich plastisch, man sieht den Ort von großer Weite umgeben vor sich. Besonderes Augenmerk legt der Autor dabei auf die Beschreibung des Landlebens an sich. Bei der Darstellung des Umgangs mit Tieren geht er nicht zimperlich mit seinen Lesern um, sondern zeigt die Praxis sehr realistisch. Dabei kann man vermuten, dass der Autor hier eigene Erfahrungen verarbeitet hat.

Das, was er zu erzählen hat, ist von der ersten Seite an fesselnd und niemals kitschig. Man nimmt starken Anteil an den Protagonisten. Das Ende kommt einer schlüssigen Entwicklung gleich. Es werden nicht alle Fragen final beantwortet, aber gerade das hat mir gut gefallen: Es fordert uns heraus, weiterzudenken und Möglichkeiten auszuloten. Es bleibt ehrlich.

Wieder ein ganz starkes Buch aus dem Diogenes-Verlag, dem ich gerne starke 5 Sterne gebe!


 
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