Rezension (5/5*) zu Liebe ist gewaltig: Roman von Claudia Schumacher

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Liebe ist gewaltig: Roman von Claudia Schumacher
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Großartiges Debüt über die Folgen familiärer Gewalt

Der Roman wird auf drei Zeitebenen erzählt. Wir lernen Ich-Erzählerin Juli 2007 als Siebzehnjährige kennen, als sie sich in einer psychiatrischen Einrichtung zur Kur befindet. Das offizielle Krankheitsbild weicht vom tatsächlichen ab, wie wir aus Julis Bericht erfahren. Schnell ist man schockiert über Sätze wie diesen: „Als ich vierzehn war, artete trotzdem alles in rohe Gewalt aus. Papa hat mich durchs Haus gejagt und gedroht, mich umzubringen.“ (S.23) Juli schildert Episoden ihrer Kindheit, die sprachlos machen. Sie ist das jüngste von vier Geschwistern, sie und Bruder Bruno leiden am stärksten. Als Leser erkennt man die Tragweite des Erlebten sehr schnell. Die Eltern sind erfolgreiche, anerkannte Anwälte, die Verhältnisse gelten als gut situiert und geordnet. Doch hinter der Fassade spielen sich unglaubliche Szenen ab, weil der Vater ein cholerischer Tyrann ist, der sich nicht nur an seinen Kindern vergreift, sondern auch nicht müde wird, seine Frau zu demütigen und vor dem Nachwuchs herabzusetzen. Schläge bekommen sie alle.

Nun könnte man meinen, eine solche Geschichte ist schon oft erzählt worden, das kenne man doch alles schon… Nein, weit gefehlt! Was den Roman so besonders macht, ist die unmittelbare, eindringliche Sprache der Ich-Erzählerin. Das Mädchen ist stark und hochintelligent. Sie vermag zu erkennen, zu erklären und zu analysieren. Sie ist eine herausragende Schülerin. Sie ist nicht larmoyant, und dennoch kann sie ihre Gefühle unglaublich treffend und nachvollziehbar in Worte kleiden. Man erkennt die Hilflosigkeit des Kindes/ der Jugendlichen angesichts der väterlichen Übermacht. Wie so oft in dysfunktionalen Familien ist die Mutter keine Hilfe, sie tröstet mit Einkaufstouren und Kuchen. Sie bagatellisiert und negiert die Gewaltexzesse sogar, stilisiert sich selbst zum einzig wahren Opfer. „Das führt mich zum eigentlichen Spuk im Haus: Jeder erzählt eine andere Geschichte über dieselben Dinge. Die Wahrheit, das ist reine Verhandlungssache.“ (S.66) Ihre Tatenlosigkeit macht die Mutter zur Mitschuldigen. Die Fassade nach außen ist wichtiger als der Schutz ihrer Kinder. Insofern gilt es als ungeschriebenes Gesetz, dass über die häuslichen Erlebnisse nichts nach außen dringen darf. Das eigene Nest darf nicht beschmutzt werden, das käme einem Verrat gleich.

Spätestens ab der zweiten Zeitebene, die 2014 einsetzt, wird die komplexe Leidensgeschichte mit all ihren Auswirkungen ins Erwachsenenalter deutlich. Die beiden ältesten Geschwister Alex und Max scheinen die häuslichen Zustände relativ unbeschadet überstanden zu haben, Juli und Bruno indessen leiden unter den wiederholten Übergriffen des Vaters, werden zunehmend psychisch aus der Bahn geworfen. Opfer von Gewalt haben massive Beziehungsstörungen, insbesondere dann, wenn sie sich niemandem anvertrauen oder psychiatrische Hilfe in Anspruch nehmen. Sie fühlen sich minderwertig, können schwer Vertrauen aufbauen, sind anfällig für Drogen und andere Fluchten. Sie sind selbst gewalttätig und übernehmen das altbekannte Muster ins weitere Leben. Dieser Roman ist unglaublich gekonnt geschrieben. Er leuchtet die Untiefen der toxischen Familienbande sorgfältig aus, findet beeindruckend treffende Metaphern für Gefühle und Seelenzustände, beschreibt die verschiedenen Charaktere in all ihrer Vielfältigkeit, wobei Juli und Bruno die eng miteinander verbundenen Protagonisten sind. Auch deren ambivalente Verstrickungen mit dem Elternhaus werden nicht ausgespart: „Blut ist dicker als Wasser, das gilt nur für die dysfunktionale Familie. Aus einem guten Elternhaus spazierst du raus, sobald du volljährig bist, und machst, was du willst. Aber die schlechte Familie, ausgerechnet die, lässt dich nicht los.“ (S. 204)

Die Sprachvirtuosität dieses Debüts hat mich vollkommen begeistert. Es ist alles so erschreckend glaubwürdig erzählt. Wäre da nicht der schnoddrig-überlegene Ton der Erzählerin, könnte man es wahrscheinlich kaum aushalten. Die Erzählart macht es erträglich, weil die Autorin ein außerordentliches Gespür für die richtige Balance hat. So hält sie sich nie bei blutigen Details auf und driftet nicht in Sentimentalität oder übertriebene Gefühligkeit ab. Die Erzählstimme geht meist nüchtern-sachlich weiter, versucht sich auf den nächsten Schritt, auf das Wesentliche, zu konzentrieren. Ihr Ziel ist eine differenzierte Analyse der erlittenen Misere. Doch auch die Perspektiven anderer Figuren werden organisch in den Text eingebettet.

Insofern möchte ich dieses grandios erzählte Buch wirklich breiten Leserschichten empfehlen. Es ist kein leichtes Thema, aber ein wichtiges. Ein Buch kann seinen Beitrag in der Debatte leisten, indem es verdeutlicht, wie sehr familiär erlebte Gewalt das weitere Leben vergiftet und in wirklich alle Lebensbereiche hineinwirkt. Es kann sensibilisieren, auch dafür, dass Dysfunktionalität nicht nur in bildungsfernen, armen Familien vorkommt. Im Gegenteil: Intellekt kann Aggressionsmuster weit subtiler und demütigender gestalten.

Der Roman hat keine Längen. Man wird von der Intensität des Geschilderten mitgerissen, bis man auf der dritten Zeitebene 2016 und schließlich beim Epilog ankommt. Eine ganz große, dicke Leseempfehlung für alle Menschen, die sich der zweifellos fordernden Thematik stellen wollen. Sie werden reichlich belohnt werden. Der Roman eignet sich hervorragend für Lesekreise. Hoffentlich werden wir noch viel von dieser begabten Autorin lesen können!


 

otegami

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17. Dezember 2021
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„Blut ist dicker als Wasser, das gilt nur für die dysfunktionale Familie. Aus einem guten Elternhaus spazierst du raus, sobald du volljährig bist, und machst, was du willst. Aber die schlechte Familie, ausgerechnet die, lässt dich nicht los.“ (S. 204)
Auch dies habe ich mir markiert! (Mein Buch sieht total bunt aus mit den ganzen page-markern) Es gab halt soooo viele tolle Sätze, die es wert waren, die unter die Haut gingen!
Tolle ausdrucksstarke Rezi, bei der ich jeden Satz unterschreiben kann!
 

Literaturhexle

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Wandablue

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Brandenburg
Eigentlich bin ich ein Pilcherleser ...und brauche Harmonie ... was für schlimme Themen du immer liest ...
Aber im Ernst: ich hätte nicht gedacht, dass C.S. so ein starkes Debüt schreibt, diese Rezension könnte mich dazu verführen, ein zweites Buch von C.S. evtl. zur Hand zu nehmen.
 

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