Rezension Rezension (5/5*) zu Liebe ist die beste Therapie von John Jay Osborn.

MRO1975

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11. August 2018
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Buchinformationen und Rezensionen zu Liebe ist die beste Therapie von John Jay Osborn
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Listen to the Marriage - Hört, was eure Ehe zu euch sagt

Ich lese keine gefühlsduseligen Liebesromane. Dieser Roman ist - ungeachtet seines verunglückten deutschen Titels - auch keiner. Der Roman ist ein Augenöffner.

Die Geschichte spielt sich fast ausschließlich im Besprechungszimmer der Therapeutin Sandy ab. Dort erscheinen Charlotte und Steve. Die beiden sind verheiratet und haben zwei Kinder. Sie leben allerdings getrennt und die Ehe scheint zerrüttet. Charlotte und Steve haben sich im Laufe der Jahre offenbar voneinander entfremdet. Steve ist dem beruflichen Erfolg hinterher gejagt und hat seinem Job und der Karriere Vorrang vor seiner Familie eingeräumt. Charlotte fühlte sich mit dem Alltag und ihrem Job allein gelassen. Als sie entdeckt, dass Steve fremdgeht, läuft das Fass über.

Die Paartherapie bei Sandy ist der letzte Versuch, die Ehe zu retten. Steve scheint reumütig und bemüht sich. Charlotte scheint dagegen froh, sich von Steve befreit zu haben und macht die Therapie offenbar nur der Kinder zuliebe. Die gemeinsamen Kinder sind dann auch das erste zarte Bindeglied, über das Charlotte und Steve einen halbwegs normalen Umgang als getrenntes Paar aufbauen.

Steve macht im Verlauf der Geschichte eine große Veränderung durch. Die Trennung von Charlotte und den Kindern rüttelt ihn wach. Er verringert seine Arbeitszeiten, verkauft sein Angeberauto und kauft stattdessen einen familientauglichen Wagen und mietet ein Haus. Er möchte mehr Kontakt zu seinen Kindern und erhält ihn schließlich auch. Doch Charlotte ist nicht so leicht zu erweichen. Ihre Gefühle wurden verletzt und sie scheut neue Verletzungen.

Charlotte und Steve haben also eine weiten Weg zu gehen, wenn sie ihre Ehe retten wollen. Sie müssen lernen, einander zuzuhören und miteinander zu kommunizieren. Verlorenes Vertrauen muss neu aufgebaut, die eigenen Gefühle ergründet werden. Das ist anspruchsvolle Arbeit, bei der ihnen Sandy eine große Hilfe ist. Sandy lehrt ihnen auch, sich selbst und die eigenen Probleme nicht überzubewerten, sondern sich vor Augen zu führen, was sie zusammen in ihrer Ehe aufgebaut und erreicht haben. Die Ehe von Charlotte und Steve wird als vierte Person durch einen grünen Sessel im Besprechungsraum verkörpert. Der Sessel ist von Anfang an gegenwärtig und die Ehe wird im Laufe des Romans immer präsenter. Sie bekommt über Sandy eine eigene Stimme. Doch Charlotte und Steve müssen lernen, auf sie zu hören.

Der Roman wirkt wie ein Kammerstück. Er ist ausschließlich aus der Perspektive der Therapeutin Sandy erzählt und spielt sich fast nur in ihrem Besprechungszimmer ab. Als Leser schlüpft man daher automatisch selbst in die Rolle des Therapeuten, erfährt erst nach und nach die Einzelheiten, die zur Trennung von Charlotte und Steve geführt haben und geht auf Ursachenforschung. Da die Erforschung der Vergangenheit sowie die parallel laufende Gegenwart ausschließlich in den Therapiesitzungen erzählt wird, entwickelt sich die Story außerdem unheimlich schnell und zieht in den Bann. Mir fiel es schwer, das Buch wegzulegen.

Die Geschichte drückt zu keiner Zeit auf die Tränendrüse, sondern konzentriert sich auf allzu menschliche Verhaltensmuster, die uns oft die falschen Dinge aus den falschen Gründen tun lassen. Ein analytischer Roman, den ich guten Gewissens empfehlen kann.

 

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