Rezension Rezension (5/5*) zu Leinsee von Anne Reinecke.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Leinsee von Anne Reinecke
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Rückkehr in die Kindheit und Bereitmachen zum Neuanfang

„Dieses Gelb war unangemessen. Woher die Farbe kam, konnte Karl sich nicht erklären. Soweit er sich erinnerte, hatte er nichts Gelbes gegessen. Seit zwanzig Minuten kotzte er sich – ja, was eigentlich? – aus dem Leib. Kanarienvogelgelb in silberner ICE-Kloschüssel, ganz hübsch, ein schönes Bild für – ach, auch egal.“ (S.7)

So beginnt der Roman „Leinsee“ von Anne Reinecke. Sofort ist man mitten im – wenn auch nicht appetitlichen – Geschehen. Der erste Eindruck bestätigt sich beim Weiterlesen: Farben spielen eine große Rolle, aus ihnen bestehen auch die Kapitel-Überschriften, die immer einen starken Bezug zum Inhalt des entsprechenden Abschnittes haben, manchmal aber auch eine Wortspielerei enthalten wie „Gottweiß“, „Föhnblond“ oder „Grauseiden“.

Der Protagonist Karl ist 26 Jahre alt und lebt mit seiner Freundin Mara in Berlin. Seit seinem Abitur vor sechs Jahren hatte er keinen Kontakt mehr zu seinen Eltern, dem berühmten Künstlerehepaar Stiegenhauer. Er fährt nun mit dem ICE nach Süddeutschland in sein Elternhaus in Leinsee. Sein Vater August hat sich dort mit dem Strick erhängt, seine Mutter Ada liegt mit einem großen Gehirntumor im Krankenhaus. Karl wartet auf Nachricht, ob sie die lebensbedrohliche Operation trotz schlechter Prognose überlebt hat.

Sehr schnell wird klar, dass die Beziehung zwischen Eltern und Sohn nicht unproblematisch war. Äußerlich relativ unberührt betrachtet er den am Boden liegenden toten Vater, spricht gefasst mit den Polizisten, hat keine Eile, den vom Vater hinterlassenen Abschiedsbrief zu lesen. Karl fühlt sich fremd im Haus, nie fühlte er sich als Kind geliebt und zu den Eltern dazugehörig. Bereits mit 10 Jahren wurde Karl ins Internat abgeschoben, selbst seinen Namen musste er dort abgeben: „Sie wollten ihm ein normales Leben ermöglichen, sagten sie, einen eigenen Weg außerhalb ihrer Berühmtheit. Deshalb besuchten sie ihn nie. Auch zu seinen Geburtstagen nicht, auch zur Abiturfeier nicht. Keine Ausnahme.“ (S. 47) Harter Tobak!

Karl hat darunter gelitten, insbesondere das Fehlen der Mutter hat Spuren hinterlassen, er wirkt psychisch verletzt, scheint mitunter autistische Züge zu haben, flüchtet sich in den Alkohol. Umso bemerkenswerter scheint es, dass er trotzdem an der Kunsthochschule studierte und sich – ohne den Rückenwind des berühmten Elternpaares – bereits als Künstler in Berlin einen Namen gemacht hat.

Wider aller Prognosen überlebt Ada die Operation, ist einige Tage später sogar ansprechbar. Mit gemischten Gefühlen eilt Karl ans Krankenbett und erlebt eine Überraschung. Während der folgenden Wochen kümmert sich Karl um seine Mutter, sehr zum Leidwesen seiner Freundin Mara und des ehemaligen Assistenten seiner Eltern.

Karl bekommt Gelegenheit, einen Teil seiner verstrichenen Kindheit wieder aufzuholen. Eine sehr zentrale Rolle spielt dabei das 8-jährige Mädchen Tanja, das ihm das erste Mal im Garten auf dem Kirschbaum begegnet. Die Kontakte zwischen den beiden finden anfangs ohne Worte statt, sie tauschen heimlich kleine „Schätze“ aus, arbeiten gemeinsam und verstehen sich blind. Tanjas Anwesenheit wirkt auf Karl unglaublich beruhigend. „Vielleicht blieb er einfach, weil ihn jetzt niemand mehr daran hindern konnte, in seinem Elternhaus zu wohnen. Keine Ahnung. Vielleicht war es auch dieses Kind. Wenn das Kind da war, ging es ihm am besten.“

Diese Freundschaft zwischen dem Mädchen und dem erwachsenen Mann ist eines der Hauptthemen des Romans. Daneben geht es natürlich auch um Freundschaft und Beziehungen: innerhalb der Künstlerfamilie, zu seiner Freundin Mara, zum Galeristen Raiken sowie dem Assistenten Torben. Es geht natürlich auch um Kunst, wie die eingangs erwähnten Farben schon symbolisieren. Letzes Thema bildet aber nur den Rahmen und interessante Verknüpfungen, weil der Künstler in seiner Kunst auch immer etwas von sich selbst und seinem Leben preisgibt. Ein richtiger Künstlerroman ist das Buch aus meiner Sicht nicht, eher ein Entwicklungsroman.

Dieser Roman hat mich begeistert! Die Autorin kann so vielseitig schreiben, dass es eine reine Freude ist. Sie schreibt klare, verständliche Sätze, die trotzdem eine unglaubliche Tiefe haben und zum Nachdenken auffordern. Mal schreibt sie fast märchenhaft, als sie die Liebesgeschichte der Stiegenhauers beschreibt (S. 50-57), sie kann aber auch komisch, als zwei Polizisten ihn wegen Schüssen in seinem Garten vernehmen wollen (S. 90-97) oder während eines Ausfluges (S. 333-344). Die Dialoge sind sehr authentisch auf die Charaktere zugeschnitten und sprühen vor Esprit. Meistens schreibt Reinecke mit ruhiger, etwas melancholischer Sprachmelodie, was daran liegt, dass meistens aus Karls Perspektive erzählt wird.

Nicht nur die Überschriften haben Symbolgehalt, man findet Vieles, das unterschiedliche Deutung zulässt. Dabei ist der Stil aber niemals gestelzt. Man wird nicht müde, sich auch während des Lesens seine eigenen Gedanken zu machen. Genau das ist es, was ich mir von einem Buch wünsche!
Der Roman viele Entwicklungen bereit, die ich so nicht vorher gesehen hätte. Es gibt Wendungen, Überraschungen, die zum Weiterlesen drängen.

Für mich ist der Roman „Leinsee“ ein weiteres Lese-Highlight des jungen Jahres 2018. Da es sich um das Debüt der Autorin Anne Reinecke handelt, hat sie ihre Messlatte gleich sehr hoch angelegt. Ich wünsche ihr und uns, dass man noch viele Geschichten aus ihrer Hand wird entdecken dürfen.
Unbedingte Lese-Empfehlung!


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