Rezension (5/5*) zu Kreutzersonate: Novelle - Penguin Edition von Leo Tolstoi

Anjuta

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8. Januar 2016
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Eifersucht - Der unschuldige Mörder???

In einer Neuübersetzung von Olga Radetzkaja hat der Penguin-Verlag in diesem Jahr die „Kreutzersonate“ von Leo Tolstoi neu herausgegeben. Den Wirbel, den dieses literarische Werk bei seinem Erscheinen im Jahr 1891 verursachte, ist auch heute bei der Lektüre noch sehr verständlich: die Offenheit, mit der hier über die sexuelle Seite des Ehelebens bzw. der Mann-Frau-Beziehungen berichtet wird, stellt für die damalige Zeit sicher einen Tabubruch ungeheuren Ausmaßes dar. Und auch wenn heute die Analysen und Ausführungen des Protagonisten Posdnyschew deutlich nicht mehr unserem modernen Frauenbild entsprechen, so ist doch erkennbar, dass er sich damit weit über die zeitgenössischen Sichtweisen hinweggesetzt haben muss und der Roman damit stark anstößig und polarisierend wirken musste. Das drückt der literarische Zeitgenosse des Autors Anton Tschechow sehr gut aus, der im Nachwort zitiert wird:
<blockquote> „Wenn du sie [die Kreutzersonate] liest, willst du beinahe schreien: ‚Das ist wahr!‘ oder ‚Das ist unsinnig!‘“. </blockquote>
In jedem Fall lässt die Lektüre der Herzensergüsse Posdnyschews geäußert seinem Reisegefährten im Zug (dem Erzähler) gegenüber den Leser nie unbeeindruckt. Die Lektüre fordert den Leser heraus, sich dem Erfahrenen gegenüber zu positionieren – so oder so. Diese unvermeidbare Positionierung und den Anstoß zu einer Meinungsbildung bestimmt sicher die Wirkungsgeschichte der Novelle in der Weltliteratur. Dass sie dazu beitragen konnte, zu einer gesellschaftlichen Haltung zur Rolle der Frau in ehelichen und anderen Beziehungen einen Beitrag zu leisten, daran hatte sicher auch einen erheblichen Einfluss, dass Leo Tolstoi schon damals als echte moralische Instanz in Russland galt und mit „Anna Karenina“ ja auch schon eine Lanze gebrochen hatte für die „ehebrechende“ Frau.
Der Inhalt ist schnell erzählt: Bei einer Zugfahrt trifft der Erzähler auf den Reisenden Posdnyschew, der nur zu gern die Geschichte seiner Ehe und seines damit verbundenen Unglücks mit sehr viel Emotionen erzählt. Dabei schlägt Posdnyschew einen größeren Bogen und analysiert die Beziehung von Männern und Frauen insgesamt als unheilbringend, da permanent bestimmt von den sexuellen Gelüsten und Anziehungskräften zwischen den Geschlechtern. Für die Männer bedeutet das für ihn, das sie sich ständig der sexuellen Anziehungsanstrengungen der Frauen quasi machtlos gegenübersehen. Und für die Frauen, dass sie sich in einer immerwährenden Prostitution bewegen müssen, um Männer zu verführen und anzuziehen. Trotz dieses negativen Bildes über die Beziehung von Mann und Frau meinte Posdnyschew irgendwann die eine Frau gefunden zu haben, die als seine Ehefrau ihn binden und heilen könnte von diesem ständigen verführt werden. Doch da täuscht er sich. Auch in der Ehe bleibt für ihn einzig der Geschlechtstrieb als verbindendes Element zu seiner Frau. Alles andere ist Leere und Inhaltslosigkeit. So wird das entscheidende Gefühl zwischen ihm und seiner Frau von seiner Seite aus eine unbarmherzige Eifersucht, denn immer und ewig sieht er seine Frau als verführendes Wesen und nicht etwa als Partnerin in der Ehe. Diese Eifersucht wird so übermächtig, dass sie Posdnyschew letztlich zum Mörder an seiner Frau macht. Interessant dabei ist, dass er für diese Tat vom zeitgenössischen Gericht freigesprochen wird, da es dieses Maß an Eifersucht nicht etwa dem Eifersüchtigen anzulasten weiß, sondern den äußeren Umstände ganz dafür die Verantwortung gibt. Das Gericht unterstützt damit letztlich die so vehement vorgebrachte Haltung Posdnyschews zur unabwendbar fatalen Beziehung zwischen Männern und Frauen.
Dies unterstreicht besonders stark die Wichtigkeit dieses literarischen Klassikers, der in seinem Mann-Frau-Bild heute etwas überholt wirken mag, der aber in dieser Beziehung auch weiterhin Bedeutung hat. Wie häufig etwa spielt die Kleidung von Frauen in Vergewaltigungsprozessen eine Rolle im Sinne von „Die war doch selber schuld!“ und wie oft werden Gerichtsurteile gefällt, in denen die durch seine Geschichte geprägte Gefühlswelt des Täters ihn als unschuldig gelten lässt. Die Grenze dessen, wie weit der Täter für sich selbst verantwortlich ist bzw. inwieweit ihn die Gesellschaft zu dem gemacht hat, was er ist, ist immer wieder eine fragil und schwer zu bestimmende.
Deshalb: auch heute noch aktuell und auch heute noch 5 Sterne-Weltliteratur!