Rezension Rezension (5/5*) zu Kindeswohl von Ian McEwan.

Renie

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19. Mai 2014
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Buchinformationen und Rezensionen zu Kindeswohl von Ian McEwan
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ein bemerkenswertes Buch

Fiona ist Familienrichterin am Londoner Gerichtshof. Im Job erfolgreich, seit 30 Jahren glücklich verheiratet mit Jack, einem Geschichtsprofessor – eigentlich meint das Leben es gut mit Fiona. Daher fällt sie aus allen Wolken, als Jack ihr gesteht, dass er in der Ehe nicht mehr glücklich ist. Er möchte Fiona’s Segen für eine außereheliche Affäre. Sie lässt sich nicht darauf ein, woraufhin Jack seine Sachen packt und erstmal auszieht.
Fiona wird bewusst, dass sie sich bis jetzt zu sehr in ihre Arbeit geflüchtet hat und somit die Anzeichen für ihre Ehekrise ignorieren konnte.

„Jacks Rückzug machte ihr keine Sorgen. Ihr Gespräch hatte auf eine schmerzhafte Offenheit zugesteuert. Es ließ sich nicht leugnen, sie war erleichtert, sich plötzlich auf neutralem Boden, in der kahlen Steppe der Probleme anderer Leute wiederzufinden.“

In den Tagen, die auf Jack’s Auszug folgen, durchlebt sie ein Gefühlschaos. Selbstmitleid wechselt mit Wut. Zeitweilig gibt sie sich die Schuld an der Ehekrise. Am Ende ist sie nur noch enttäuscht.

„…. und fragte sich wieder einmal, ob es wirklich Liebe war, was sie verloren hatte, oder nicht eher so etwas wie eine moderne Form von Ehrbarkeit, ob es, wie in den Romanen von Flaubert und Tolstoi, Verachtung und Ausgrenzung war, die sie fürchtete, oder nicht eher Mitleid.“

Genau in diesem Moment erhält sie einen schwierigen Fall: Der 17-Jährige Adam ist an Leukämie erkrankt. Wenn er keine Bluttransfusion erhält, wird er in wenigen Tagen sterben. Doch seine Familie gehört den Zeugen Jehovas an, die Bluttransfusionen aus Glaubensgründen ablehnen. Fiona soll nun darüber entscheiden, ob die Klinik die Transfusion gegen den Willen von Adam und seiner Familie vornehmen darf, um somit sein Leben zu retten.

Bei der Anhörung tragen sowohl Adam’s Eltern als auch die Klinik ihre Standpunkte vor. Dieser Teil war sehr interessant.
Ich habe gewisse Vorbehalte gegenüber den Zeugen Jehovas. Da ich nicht besonders viel über deren Glaubensausübung weiß, schwanke ich immer zwischen „Sekte“ und „Glaubensgemeinschaft“. Insofern war die Schilderung der Anhörung für mich hochinteressant. Gerade die Argumentation für die Ablehnung der lebensrettenden Bluttransfusion war schon sehr speziell und verwunderlich.

Fiona macht sich die Entscheidung nicht einfach und will sich einen Eindruck über Adam’s Urteilsfähigkeit und geistiger Reife schaffen und besucht ihn im Krankenhaus.
Weiter möchte ich nichts über den Inhalt erzählen. Denn mit einem Mal nahm die Geschichte einen Verlauf, mit dem ich nicht gerechnet habe. Ich habe das Buch verschlungen, wozu mit Sicherheit auch der Schreibstil von Ian McEwan beigetragen hat.
Es ist schwierig, diesen zu beschreiben. Einerseits wirkt der Stil insgesamt sehr nüchtern, trotzdem gibt es immer wieder Situationen, in denen die Sprache sehr bildhaft wird.

„Es hatte fast den ganzen Sommer geregnet, die Stadtbäume wirkten gleichsam angeschwollen, ihre Wipfel aufgeplustert; die Bürgersteige waren sauber und glatt, die Autos auf der High Holborn blitzblank wie im Ausstellungssalon. Als sie das letzte Mal hingesehen hatte, war die ebenfalls angeschwollene Themse von einem dunkleren Braun gewesen, düster und rebellisch stieg die Flut an den Brückenpfeilern empor, drauf und dran, die Straße zu erobern.“

McEwan schafft es, die Stimmungen und Emotionen, die seine Charaktere durchlaufen auf den Leser zu übertragen. Das Gefühlschaos von Fiona ist spürbar. Das Gespräch zwischen Fiona und Adam im Krankenhaus sehr emotional. Und immer fühlt man als Leser mit.

Mir hat das Buch sehr gut gefallen. Das Thema war besonders, der Sprachstil außergewöhnlich. Das Ende hat mich überrascht.


 
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