Rezension Rezension (5/5*) zu Kim Jiyoung, geboren 1982: Roman von Nam-Joo Cho.

Anjuta

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8. Januar 2016
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Die Frau in Südkorea in Fiktion und Soziologie

“Kim Jiyoung, geboren 1982” ist ein Roman, der in Südkorea nachdem, was wir lesen konnten, enorm große Aufmerksamkeit bekommen hat. Dabei beschreibt die Autorin Cho Nam-Joo eigentlich nur das, was alle längst wissen und um sich herum beobachten können in diesem Land: Die vollkommen unspektakuläre Lebensgeschichte einer jungen südkoreanischen Frau, die in ihrem Leben all überall an die gläsernen Wände stößt, die um das Leben von Frauen und deren Entfaltungsmöglichkeiten gezogen werden. Gesellschaftlich akzeptiert und unterstützt und von allen hingenommen, aber eben doch ein Problem, an dem viele junge Frauen verzweifeln und an dem auch die Gesellschaft verzweifeln sollte, das aber nicht oder viel zu wenig tut.
Der Erfolg von Cho Nam-Joos Roman hat da vielleicht ein wenig Bewusstsein schaffen können und deshalb so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen.
Aber nicht nur in Südkorea ist der Roman ein Erfolg. Er wurde inzwischen in viele Sprachen übersetzt, in vielen Ländern veröffentlicht, von vielen Lesern gelesen. In Deutschland hat ihn der Kiepenheuer & Witsch Verlag herausgegeben.
Müssen wir daraus nicht den Schluss ziehen, dass das mangelnde Bewusstsein bei vorliegender Kenntnis über die Problemlage nicht nur ein koreanisches, sondern ein weltweites Problem ist? Ich muss die Frage wohl nicht wirklich beantworten.
Das Besondere an Chos Roman ist einerseits die unspektakuläre Erzählweise über Jiyoung und ihr Leben von der Kindheit über die Schul- und Universitätszeit bis hin zum Leben als verheiratete Frau und Mutter und andererseits das Einstreuen von wissenschaftlichen Fakten und Fußnoten, was den Leser immer mal wieder aus der Handlung herausreißt und die Illusionen des Lesers zu zerstreuen vermag, dass er es ja hier nur mit einer guten Geschichte zu tun habe. (Ich musste da tatsächlich an den Brechtschen Verfremdungseffekt denken, der für das Theater eine solche bruchhafte Gestaltung zum literarischen Stilmittel gemacht hat.) Diese gut dosierte Kombination von Fiktion und soziologischen Fakten deutet sich ja auch bereits im Titel des Romans an, wo der Name der Hauptheldin ganz nüchtern, sachlich, faktisch mit ihrem Geburtsdatum kombiniert wird.
Mit diesem ganz besonderen Stilmittel schafft es die Autorin für mich tatsächlich, einen Roman zu schreiben, der gesellschaftliche Bedeutung erlangt und vom Leser - mehr wahrscheinlich als bei bruchloser Fiktion – eine Stellungnahme und Position zum Geschehen verlangt. Es ist also ein für den Leser herausfordernder Roman, der Wirkung entfalten kann.
Ich gebe dem Roman deshalb gerne 5 Sterne.


 

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