Rezension (5/5*) zu Kangal: Roman von Anna Yeliz Schentke

Irisblatt

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15. April 2022
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Buchinformationen und Rezensionen zu Kangal: Roman von Anna Yeliz Schentke
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Aktuell, brisant, beklemmend

Dilek und Tekin gehören zu derjenigen jungen türkischen Generation, die bereits 2013 in Istanbul für ihre Freiheitsrechte demonstrierte.

Der gescheiterte Putschversuch 2016 stellte eine Zäsur dar. Erdoğan konnte seine Macht kontinuierlich ausbauen, staatliche Repressionen nahmen zu. Seither ist es gefährlich geworden, das autoritäre politische System zu kritisieren oder ein Leben zu führen, in dem Allah keine Bedeutung hat.

Menschen verschwinden, werden verhaftet, Cafés, Bars und Treffpunkte geschlossen, wenn der Staat dort „unmoralisches“ Handeln oder einen Treffpunkt von Regimekritiker:innen vermutet.

Bereits seit einigen Jahren veröffentlicht Dilek unter dem Namen Kangal1210 kritische Artikel im Netz. Als eine Freundin verhaftet und ein weiterer Freund zu Verhören geladen wird, wächst in Dilek die Furcht, ihre Identität könnte auffliegen, sie die nächste sein, die im Gefängnis landet. Hals über Kopf reist sie, ohne irgendjemandem Bescheid zu sagen, nach Frankfurt. Sie nimmt Kontakt zu ihrer Cousine Ayla auf, mit der sie als Kind häufig die Ferien verbrachte. Ein Zerwürfnis der Mütter, dessen Ursache vermutlich auch in unterschiedlichen politischen Einstellungen zu suchen war, führte zu einem Kontaktabbruch. Kann Dilek Ayla und ihrer Familie nach all den Jahren trauen? Schließlich wurde Erdoğan von 63% der in Deutschland lebenden Türk:innen begeistert gewählt. Auch eine regierungstreue „Denunzierungsapp“ wurde massenweise heruntergeladen und ist schnell bedient; nie war es leichter Mitmenschen an den Staat zu melden.

Anna Yeliz Schentkes Debütroman erzeugte eine starke Beklemmung bei mir. Im schnellen Wechsel lässt die Autorin Tekin, Dilek und Ayla zu Wort kommen. Wem kann man trauen? Schwebt Dilek wirklich in Gefahr? Wird der zum Verhör geladene Freund die Identität von Kangal1210 preisgeben, um sich selbst zu schützen? Hat der Staat Dilek bereits im Visier? Oder ist Dilek einfach nur paranoid? Melek, eine Freundin von Ayla, die in Deutschland lebt, glaubt nicht an willkürliche Verhaftungen oder an Verhaftungen aus nichtigen Gründen. Schließlich kennt sie genügend Türk:innen, die regelmäßig den Urlaub in der alten „Heimat“ verbringen und auch kein Blatt vor den Mund nehmen. Niemandem wurde der Pass abgenommen, alle konnten zurück nach Deutschland fahren. Dilek hat diesbezüglich ihre ganz eigene Meinung, im übrigen auch darüber was der touristische Aufenthalt ihrer Landsleute in der Türkei anrichtet.

Die kurzen Monologe sind manchmal nur eine Seite lang, bringen aber viele Themen und auch die ambivalenten Befindlichkeiten der Figuren sehr nuanciert auf den Punkt. Die unterschwellige Bedrohung, der Regimekritiker:innen nicht nur in der Türkei, sondern auch außerhalb der eigenen Landesgrenzen ausgesetzt sind, vermittelt sich unmittelbar und sehr eindringlich beim Lesen dieses kurzen Romans. Politisch hoch brisant gewährt die Autorin Einblicke in die realen Ängste von Regimekritiker:innen und zeigt pointiert wie sich Stimmung und Lebensrealität seit dem Putschversuch verändert haben. Mir hat der Text in seiner Klarheit und seinen Zweifeln, die er sät, unheimlich gut gefallen. Zu Recht stand "Kangal" auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2022.

 
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