Rezension (5/5*) zu Kairos: Roman von Jenny Erpenbeck

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Kairos: Roman von Jenny Erpenbeck
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Liebe in Zeiten des Umbruchs

Kairos ist der Gott des glücklichen Augenblicks. „War der Augenblick ein glücklicher, in dem sie damals, als neunzehnjähriges Mädchen, Hans traf?“, sinniert die mittlerweile mit einem anderen Mann verheiratete Katharina Jahre nach ihrer Beziehung mit Hans. Der Anlass? Hans ist gestorben, seine Witwe bringt zwei Kartons vorbei, die angefüllt sind mit Erinnerungsfragmenten aus jener Zeit.

„In so einem Koffer, in so einem Karton, liegen Ende, Anfang und Mitte gleichgültig miteinander im Staub der Jahrzehnte, liegt das, was zum Täuschen geschrieben wurde, und das, was als Wahrheit gedacht war, das Verschwiegene und das Beschriebene, liegt all das, ob es will oder nicht, eng ineinandergefaltet, …“ S. 9

In personalem Erzählstil werden wir anhand dieser Kartons durch eine insgesamt sechs Jahre währende Beziehung geleitet. Katharina ist an deren Beginn 19 Jahre jung, Hans ist ein 53-jähriger privilegierter Familienvater, der für den Rundfunk und als „freier fester Autor“ arbeitet. Er ist ein Intellektueller, der mit seiner jungen Freundin über Literatur diskutiert, mit ihr seine Liebe zu klassischen und romantischen Komponisten teilt und nicht widerstehen kann, die junge Frau zu formen. Er führt sie gerne in feine Lokale aus, für Katharina erschließt sich mit ihm eine andere Welt, die sie ihren gleichaltrigen Freunden immer mehr entfremdet. Was zunächst wie eine Affäre beginnt, gewinnt zunehmend an Obsession und Leidenschaft. Hans und Katharina zelebrieren ihre Liebe, sammeln Erinnerungen, Eintritts- und Speisekarten, Briefe, Termine und vieles mehr. Wochen-, Monats- und Jahrestage spielen eine große Rolle. Obwohl Hans verheiratet ist, wacht er über Katharina mit großer Eifersucht und nimmt Einfluss auf ihre beruflichen Entscheidungen. Mit der Zeit benimmt er sich auch übergriffig und despotisch, was zu starken emotionalen Schwankungen über die Jahre führt. Beide arbeiten im Dunstkreis des Theaters, bestimmte Szenen weisen auch dazu Parallelen in ihrer Dramaturgie auf.

Der überwiegende Teil des Romans findet im Ost-Berlin der Jahre 1986 bis 1992 statt, einer Zeit des Umbruchs also. Jenny Erpenbeck versteht es meisterhaft, das Politische mit dem Persönlichen zu verbinden. Sie stellt dem Staat eine ungleiche Paar-Beziehung gegenüber – beide leiden, beide sind im Niedergang begriffen. Die Atmosphäre des Vorwende-Berlins ist dabei wunderbar eingefangen, so dass ein unglaublich authentisches Bild entsteht. Erpenbeck führt die Leserschaft zusammen mit den Protagonisten in Szenekneipen und -lokale, lässt sie durch die Straßen schlendern oder auf den Bus warten. Locker fließen politische Standpunkte in Dialoge ein, Hans ist ein überzeugter Sozialist. Ebenso beschreibt die Autorin Katharinas Eindrücke während eines Westbesuchs in Köln sowie alle Formalien, die zuvor dafür notwendig waren. Die Wende selbst wird aus Ost-Perspektive geschildert. Augenfällig dabei die existentiellen Ängste, die erzwungenen Veränderungen und Umstrukturierungen, die für den West-Leser neue, interessante Blickwinkel bieten, während beim Ost-Leser Erinnerungen wach werden dürften. Insofern wird neben der packenden Liebesgeschichte auch ein bedeutendes Stück deutscher Vergangenheit aufgearbeitet und beschrieben. Insbesondere Hans bringt dabei seine eigene Biografie mit ein. Er hat nach dem Krieg bereits einen Systemzusammenbruch erlebt und Wunden davongetragen, die sich in seinem Verhalten spiegeln.

Die personalen Erzählperspektiven sind ohnehin faszinierend, denn sie wechseln sich laufend ab. Dabei kann man Hans und Katharina tief in Seele und Gedanken schauen. Erpenbeck zeigt diese Wechsel nicht gesondert an und benutzt keine Redezeichen, was ein aufmerksames Lesen erfordert. Man wird dafür aber reichlich belohnt. Der gesamte Roman ist wunderbar stimmig konzipiert und erfüllt hohe literarische Ansprüche. Leser, die sich in der griechischen Sagenwelt sowie bei den deutschen Dichtern, Schriftstellern und Liedermachern auskennen, werden noch mehr Bezüge herstellen können als ich – diese Kenntnisse sind aber keinesfalls notwendig. Man hat auch so Freude an den teilweise tiefgründigen oder philosophischen Gedanken zu vielfältigen Themen. Man darf interpretieren, muss aber nicht.

„Kairos“ ist ein intensives Leseerlebnis. Jenny Erpenbeck ist eine wunderbare Beobachterin, die sich detailliert in ihre Figuren, deren Befindlichkeiten sowie in verschiedene Schauplätze hineindenken kann. Hervorzuheben ist ihre unverwechselbare Sprache, die ich gar nicht genug loben kann. Ihr Sound hat mich von Beginn an so sehr begeistert, dass ich zeitnah auch andere ihrer Romane lesen möchte.

Große Lese-Empfehlung !


von: Christopher Buckley
von: Anne Reinecke
von: Jacqueline Flory
 

kingofmusic

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Hab ich was verpasst? :oops::D Na ja, man kann nicht alles haben ha ha ha. Deine Begeisterung spricht Bände und spürt man in jeder Zeile! Chapeau! :cool: