Rezension (5/5*) zu Kairos: Roman von Jenny Erpenbeck

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Buchinformationen und Rezensionen zu Kairos: Roman von Jenny Erpenbeck
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Vom Privaten im Politischen: ein herausragender Roman.

Kurzmeinung: Hätte unbedingt auf die Shortlist gehört. Statt des ganzen Genderzeugs.

So wie man bei der Wiedervereinigung von Ost- und Westdeutschland von der Gunst der Stunde spricht, dem historischen „Kairos“, so ist auch die Begegnung des Erpenbeckschen Paars ein „Kairos“. So empfindet es wenigstens das im Mittelpunkt der Geschichte stehende Paar Hans und Katharina und zelebriert wieder und wieder ihre Kennenlernstunde. Wenn Hans nicht, wenn Katharina nicht gerade in dem Moment, wenn der Bus nicht, wenn du woanders hingesehen hättest, wenn du mich nicht angesehen hättest, wenn ich nicht mitgegangen wäre, etc. etc.

Von der Obsession einer ungleichgewichtigen Liebe handelt Jenny Erpenbecks neuer Roman „Kairos“ und spielt vor dem Hintergrund einer entscheidenden politischen Entwicklung in der deutschen Geschichte. Die DDR liegt in ihren letzten Zügen. Sie röchelt schon, doch noch nicht jeder will den Todesatem im Nacken hören. Dabei hat einmal alles so gut angefangen.

Ostberlin: Ungefähr sechs Jahre lang, von 1986 an, begleitet man die beiden Protagonisten, nämlich Katharina, blutjung, im Werden erst und noch formbar, und Hans, den alternden Schriftsteller, der in der DDRschen Medienlandschaft als anerkannter Musikexperte tätig ist.

Nicht nur das Alter schafft in dem Liebesverhältnis der beiden ein Ungleichgewicht. Hans, ein Idealist, hat bereits eine Lebensgeschichte hinter sich, die ihn geprägt hat. Sein Geburtsjahr ist 1933. Seine Wahl im Osten zu leben war freiwillig.

Katharina dagegen, 1967 geboren, ist politisch unschuldig und muss ein eigenständiges politisches Bewusstsein erst entwickeln, was in dem manipulierenden Umfeld, im dem sie sich befindet, nicht leicht sein dürfte. Der Sozialismus ist ihr selbstverständlich, von Geburt an wurde sie indoktriniert. Sie hat die DDR nicht gewählt. Aber das ist ihr nicht klar.

Viele Eigenschaften des Paares spiegeln sich im Politischen. Da ist zum einen das Ungleichgewicht zwischen einem, der oben ist und einem, der unten ist, da ist das Alte, das sich gegen das Neue, Junge sträubt und es zu Boden presst. Das Oppressive und das Repressive, ja sogar das Nostalgische der Paar-Rituale, alles findet sich im Politischen wieder. Und schließlich die Umkehr der Verhältnisse.

Zurück zum Privaten: Hans ist ein Intellektueller wie man ihn sich vorstellt. Klug. Belehrend. Wirklichkeitsscheu. Geistig überlegen. Linke Hände. Ein Denker. Belesen. Museumsverrückt, Konzert- und Vorstellungsbesessen.Entscheidungsschwach. Bequem. Leicht gekränkt. Natürlich gibt es auch anders gestrickte Intellektuelle, einzelne, die sich nicht im Wolkenkuckucksheim eingerichtet haben, aber Hans ist so.

Es ist eine Liebe wie auf der Bühne. Einzigartig. Unwiederholbar. Die große Liebe. Eine erstklassige Inszenierung. Es ist daher kein Zufall, dass das Theater und die Kunst eine große Rolle im Leben der Protagonisten spielen. Es ist Hans, der Regisseur ihres Liebesspiels ist und es ist Katharina, die das Bühnenbild entwirft, beide sind Akteure in ihrem eigenen Stück und zelebrieren es bis zum Überdruss. Mehrere Aufführungen oder mehrere Akte. Auftakt, Höhepunkt. Läuterung. Umkehr. Niedergang. Vorhang.

Mit Sätzen von großer literarischer und intellektueller Kraft setzt Jenny Erpenbeck ihre Worte. Hans erläutert griechische Mythologie, referiert über Dichter und Denker der ostdeutschen Kultur, Gedichte werden vorgetragen, Politisches in Bezug gesetzt.

Und trotzdem, obwohl das Poltische eine so große Rolle spielt und darin gelebt wird, bleibt es dezent. Jenny Erpenbeck drängt dem Leser nichts auf. Sie schlägt ihm nichts um die Ohren. Sie zeigt nur hierhin und dorthin. So war es, so dachte man. Das kommt an.

Als das Ende der DDR kommt, ist es das Ende. Nichts von „Wenn das Ende nicht gut ist, ist es nicht das Ende.“ Es ist das Ende und es ist für viele Menschen nicht gut, sondern vernichtet ihre Existenz. So hat man sich das nicht vorgestellt.

Beeindruckend als eine symbolische Szene des Ausverkaufs der DDR ist es, wie nach dem Mauerfall seitens der Buchhandlungen tonnenweise Bücher weggeschmissen wurden, für deren Besitz man vorher wer weiß was gegeben hätte. Noch eindrücklicher dargestellt in Ingo Schulzes Roman "Die rechtschaffenen Mörder".

Fazit: Das Private ist eben immer auch das Politische. „Kairos“ ist ein ungemein gelungener Liebesroman mit hoher gestalterischer Dramatik und Kraft. Mit eingebautem Erpenbeck-Sound. Versteht sich. Denn Jenny Erpenbecks erzählerische Mittel sind so vielfältig und scheinen ihr nie auszugehen, dass man nicht anders kann als von ihren Romanen fasziniert und begeistert zu sein. „Kairos“ zeugt wieder einmal davon. Eine große Autorin. Ein großartiges Buch.

Kategorie: Belletristik
Verlag: Penguin, 2021

 
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