Rezension Rezension (5/5*) zu Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise: Roman von Jean-Paul Dubois.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise von Dubois, Jean-Paul
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Wie kommt ein Philanthrop ins Gefängnis?

Die Aufzeichnungen des Ich-Erzählers Paul setzen 2009 ein. Paul sitzt in der Haftanstalt Montreal ein. Sein Strafmaß lautet auf 2 Jahre, 14 Monate hat er bereits abgesessen. Er verschmäht eine Haftverkürzung, zeigt keine Reue für das begangene Verbrechen, das fast bis zum Ende des Romans nur in Andeutungen Erwähnung findet. Pauls ungleicher Zellengenosse Patrick ist äußerlich ein bulliger Hüne, der passionierter Harley-Biker sowie Mitglied bei den Hells Angels ist. Innerlich ist er ein kameradschaftlicher, liebenswerter Typ mit verschiedenen Phobien. Patrick soll in einen Mord im Biker-Umfeld verwickelt sein und wartet noch auf seinen Prozess.
Paul betrachtet das Gefängnis als einen lebenden Organismus: „Zu dieser Stunde schläft das Gefängnis. Nach einer gewissen Zeit, wenn man sich an seinen Stoffwechsel gewöhnt hat, hört man im Dunkeln sein Atmen wie das eines großen Tiers, hin und wieder Husten und sogar Schlucken. Das Gefängnis verschlingt uns, verdaut uns, und, zusammengerollt in seinem Bauch, gekauert in die nummerierten Falten seiner Gedärme, zwischen zwei Magenkrämpfen, schlafen und leben wir, so gut es geht.“ (S. 9)

Die Haftzustände sind miserabel: Schlechtes Essen, Kälte, Ungeziefer, keine Privatsphäre – der Alltag wird sehr trostlos geschildert. Paul und Patrick freunden sich an. Paul scheint ein zutiefst trauriger Mensch zu sein. Regelmäßig besuchen ihn seine „drei Toten“, das sind sein Vater Johanes Hansen, seine Frau Winona und seine Hündin Nouk. Insofern ist die Grundstimmung gedrückt. Paul erzählt seine Geschichte jedoch durchaus leichtfüßig, er lamentiert nicht und würzt manche Szene mit einem ironisch-zynischen Unterton, der dem Geschehen die Schwere nimmt.

Paul erzählt Bedeutsames aus seinem Leben. Als Sohn eines dänischen Pastors und einer französischen Kino-Betreiberin hatte er eine unbeschwerte Kindheit. Erst mit der Trennung der Eltern, da war Paul 20 Jahre alt, gerät die Familie in unruhigere Fahrwasser: „ Das Jahr 1975, in dem ich zwanzig wurde, markierte das Ende einer Welt, der unsrigen, der der Hansens, der Leute des Nordens und des Südens, die so viele Kilometer überwunden und so viele private Opfer auf sich genommen hatten, um sich zu vereinigen.“ (S. 70)

Paul ist ein fauler Student, jedoch ein passionierter Handwerker mit Interesse für alles Technische. Seine Erzählung gleitet durch die Zeit, sie erzählt nicht nur Episoden aus dem privaten Umfeld der Familie Hansen, sondern auch Ereignisse aus dem gesellschaftspolitischen Bereich. Diese Einschübe führen zeitweise von der Haupthandlung weg, die sich im Wesentlichen um den Alltag in der Haftanstalt 2009 und die Lebensgeschichte der männlichen Hansens dreht.

Nach der Scheidung migriert Johanes nach Kanada, um dort neu anzufangen. Dem Pastor gelingt die Rückkehr in ein befriedigendes Arbeitsleben in Thetford Mines, einem Städtchen, das von der Asbest-Gewinnung lebt. Paul verdingt sich als Praktiker, bis er schließlich als Gebäudeverwalter der Wohnanlage Excelsior eingestellt wird. Eine Tätigkeit, die ihn über lange Jahre ausfüllt, wohnen doch 68 Parteien in dem Komplex. Paul ist weit mehr als ein Verwalter, er ist der gut integrierte Mann für alle Fälle mit dem Herz am rechten Fleck.

Leider verlaufen die Leben von Paul und seinem Vater nicht geradlinig. Es gibt Schicksalsschläge und falsche Entscheidungen, die zu mehr Tiefen als Höhen führen.
Während des Lesens war ich manchmal irritiert. Was ich oben als vom Hauptgeschehen wegleitende Einschübe bezeichnete, hat bei mir stellenweise Langeweile ausgelöst, ich konnte keinen Sinn darin erkennen. Manche Episode steht für eine Epoche, auch für Probleme der Zeit, doch es werden auch Skurrilitäten geschildert, die den Ernst des Romans auflockern. Nach der Beendigung der Lektüre jedoch erschloss sich mir so manche Szene, vieles passt zusammen.
Der Autor hat seine Geschichte sehr intelligent konzipiert. Die zunächst vagen Andeutungen bekommen mit Kenntnis des Gesamtwerks (überwiegend) einen Sinn.

Er behandelt ein großes Spektrum an Themen, hat eine Fülle facettenreicher Charaktere geschaffen, die uns durch den Erzähler glaubwürdig geschildert werden und unterschiedlichen Milieus entstammen. Die Palette geht dabei von rührend bis skrupellos, die Stärke liegt im Dazwischen. Er schildert glückliche Zeiten, Abschiede, er berichtet von Zweifel, Scheitern und Neuanfang. Lange Zeit passt sich Protagonist Paul an die Unwägbarkeiten des Lebens an und versucht, das Beste für sich und seine ihm Anvertrauten zu tun. Er ist ein Menschenfreund, ein Sympathieträger. Bis es irgendwann zu dem Ereignis kommt, das ihn in die Haftanstalt bringt.

Das Besondere am Roman ist die Sprache, die mir zu beschreiben schwer fällt, weil sie einfach einzigartig ist. Paul berichtet in Metaphern und Bildern sehr ausdrucksstark. Fast auf jeder Seite möchte man zitieren oder markieren. Große Gefühle werden auf den Punkt gebracht: „Meine Frau war der Umhang, der Stab, das Kaninchen und der Hut zugleich.“ (S. 216)

Das Ende des Romans beinhaltet Ende und Anfang. Der Erzähler macht sich wohl eine Philosophie seines Kumpels Patrick zu eigen: „Das Leben ist wie die Gäule, mein Sohn: Wenn es dich abwirft, hältst du die Schnauze und steigst sofort wieder auf.“ (S. 232)
Insofern ist es kein durchweg trauriges Buch, sondern ein nachdenkliches. Für mich persönlich musste das Lektüreerlebnis noch etwas nachreifen, ich musste das Gelesene setzen lassen, das Buch noch ein paar Mal durchblättern…

Völlig zu Recht hat dieser besondere Roman den Prix Goncourt 2019 gewonnen. Bitte lest dieses Buch, aber gebt ihm - wie einem guten Wein - die Zeit, die es braucht, um sich zu entfalten.

4,5/5 Sterne


 

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