Rezension Rezension (5/5*) zu Jack von Anthony McCarten.

Renie

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19. Mai 2014
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Buchinformationen und Rezensionen zu Jack von Anthony McCarten
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Jack Kerouac, wer er war oder nicht war

"Denn die einzig wirklichen Menschen sind für mich die Verrückten, die verrückt danach sind zu leben, verrückt danach zu sprechen, verrückt danach, erlöst zu werden, und nach allem gleichzeitig gieren - jene, die niemals gähnen oder etwas Alltägliches sagen, sondern brennen, brennen, brennen wie phantastische gelbe Wunderkerzen." - aus "On the road" ("Unterwegs") von Jack Kerouac

Und Jack Kerouac brannte. Er war ein Getriebener, dem es darum ging, nicht eine Sekunde seines Daseins zu verschwenden. Leben am Limit, das war seine Devise. Sex, drugs, rock'n roll, durch die Weltgeschichte reisen und das tun, was einem Spaß macht. Mit seiner Einstellung zum Leben ist er zum Vorbild einer ganzen Generation geworden, der sogenannten Beat Generation. Sein Roman "On the road", dem man autobiografische Inhalte nachsagt, erschien 1957 und wurde zur Bibel seiner Anhänger.
Aber auch Helden altern. Jack wird der Rummel um seine Person irgendwann zu viel. Seine Fans lieben ihn, die Literaturkritiker hassen ihn. Psychisch und körperlich angeschlagen verschwindet er aus der Öffentlichkeit. Die letzten 3 Jahre seines Lebens verbringt Jack Kerouac, alkohol- und drogenabhängig, in einem kleinen Ort in Florida, wo er am 21. Oktober 1969 im Alter von 47 Jahren stirbt.

Anthony McCartens Roman "Jack" beginnt am Tag von Kerouacs Beerdigung.
Die Ich-Erzählerin Jan wohnt der Beerdigung ihres Idols bei. Sie ist Literaturstudentin und hat sich intensiv mit dem Leben Kerouacs befasst. Sie möchte seine Biographie schreiben. In einer Rückblende schildert sie die letzten fünf Monate Kerouacs; wie sie ihn ausfindig gemacht hat; wie sie ihm das erste Mal gegenüber steht; wie sie sich näher kommen, sie nach und nach sein Vertrauen erlangt und schließlich sein Einverständnis bekommt, seine Biographie zu schreiben.

Jack Kerouac hat nichts mehr von dem schillernden Idol einer ganzen Generation. Er ist ein menschliches Wrack. Das Leben am Limit sowie permanenter Alkohol- und Drogenkonsum fordern ihren Tribut. Aber immer noch versteht er es, Geschichten aus seinem Leben zu erzählen. In den Gesprächen mit Jan blitzt immer wieder der "alte" Jack durch, der nach seinem ganz eigenen Lebenscredo gelebt hat, um das ihn wahrscheinlich auch heute noch viele Menschen beneiden würden. Lebe dein Leben ohne Rücksicht auf Verluste. Denn Rücksichtnahme war ihm fremd.

"Er war ein Meister der Verstellung, ein Virtuose im Spiel der Identität sein Leben lang. Im Laufe der Zeit hatte er so viele verschiedene Menschentypen gespielt - Footballheld, Junkie, Hobbybuddhist, frommer katholischer Messdiener, Grobian, Säufer, Muttersöhnchen, Berühmtheit, attraktives Postermotiv, aufgeschwemmtes Wrack, kultivierter Literat, Landstreicher, Weltreisender, scheuer Einzelgänger, Retter des modernen Romans, Schänder des modernen Romans und so weiter ..."

Bleibt natürlich die Frage, was ihn dazu bringt, sein Leben vor einer wildfremden Person wie Jan auszubreiten, und sie mit der hochheiligen Aufgabe zu betreuen, seine Biographie für die Nachwelt zu Papier zu bringen? Die Antwort auf diese Frage ist eine der großen Überraschungen in diesem Buch, mit denen mich Anthony McCarten umgehauen hat. Es wird nicht bei dieser einen Überraschung bleiben. Nur soviel: eigentlich könnte man "Jack" als einziges Rollenspiel verstehen:

"'Die Persönlichkeit eines Menschen hat Dutzende von Facetten. Fahren Sie in einen Ferienort. Sehen Sie sich um. Der humorlose Anwalt schlüpft aus seinem Anzug und verwandelt sich in einen Partylöwen. Der berühmte Schauspieler wird zum erbärmlichen Langweiler. Die eingeschüchterte Hausfrau mausert sich zur hinreißenden Liebhaberin, wird ein völlig anderer Mensch. Es ist immer das Gleiche, die Sehnsucht nach Flucht ...' - er ließ das Glas auf dem Tresen kreisen - ' Flucht aus dem Gefängnis des eigenen Ichs. ...'"

Hier werden Rollen gespielt. Jeder Protagonist rutscht in eine oder mehrere Rollen, ob absichtlich oder gezwungenermaßen sei dahingestellt. Manche Rollen kann man sich halt nicht aussuchen. Und welcher Mensch tatsächlich hinter den unterschiedlichen Rollen steckt, lässt sich kaum sagen.
Ich habe schon einige Romane von Anthony McCarten gelesen. Mit einigen hat er mich begeistert, mit anderen weniger. "Jack" gehört für mich ganz klar zur ersten Kategorie. McCarten konzentriert sich auf den gestrauchelten Helden Kerouac, holt ihn vom Podest und vermenschlicht ihn. Egal, ob man die Sturm- und Drangjahre des echten Kerouac gut findet oder nicht, für McCartens Jack wird man Mitleid empfinden. Kerouac aus der Sicht einer Biographin zu zeigen, die sowohl sein Lebenswerk als auch den Menschen Kerouac wie er heute ist zeigt, ist ein genialer Plot. Und wenn man dann noch feststellt, dass nicht nur Kerouac eine Geschichte hat, sondern auch die Biographin - und was für eine! - wird man den Roman nicht mehr aus der Hand legen können. So ging es mir zumindest. Und daher gibt es von mir eine dicke fette Leseempfehlung!

© Renie

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