Rezension (5/5*) zu Isidor: Ein jüdisches Leben von Shelly Kupferberg

RuLeka

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30. Januar 2018
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Buchinformationen und Rezensionen zu Isidor: Ein jüdisches Leben von Shelly Kupferberg
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Spuren jüdischen Lebens

Über die Zeit des Nationalsozialismus habe ich schon sehr viel gelesen - Fiktionales, Biographien, aber auch Sachbücher. Und von ähnlichen Schicksalen, von denen die Autorin Shelly Kupferberg schreibt, wird in unendlich vielen Büchern erzählt.
Trotzdem hat dieses Buch „ Isidor“ seine Berechtigung. Denn jedes dieser Leben ist es wert, aufgeschrieben zu werden, als Erinnerung und Mahnmal. Gerade weil es von den vielen ermordeten Juden so wenig Hinterlassenschaften gibt. „Umso wichtiger sind die Geschichten, die überlebt haben. Und weitererzählt werden.“ wie die Autorin in ihren Dankesworten schreibt.
Um über das Leben ihres Urgroßonkels Isidor Gellert schreiben zu können, hat die in Israel geborene und in Berlin lebende Journalistin Shelly Kupferberg ausgiebig recherchiert. Sie wurde fündig in diversen österreichischen Archiven, auf dem Dachboden ihrer Großeltern in Tel Aviv und konnte aus den Erinnerungen ihrer Verwandten schöpfen. Aus den vielen Dokumenten, Briefen, Photos und mehr hat sie ein lebendiges Bild von ihrer Familie und jener Zeit geschaffen.
Geboren wurde der Urgroßonkel Ende des 19. Jahrhunderts in einem Schtetl in Ostgalizien als Sohn eines Talmudgelehrten. Der erhielt als frommer Gelehrter keinen Lohn, deshalb lag es an der Mutter, die siebenköpfige Familie durchzubringen. Die Kinder waren weniger fromm, dafür klug und ehrgeizig und sie wollten raus aus der Enge des Schtetls. Aus Israel wurde Isidor, als er später zum Studieren nach Wien ging. Denn er begriff bald, dass der jüdische Name ein Hindernis auf dem geplanten Weg nach oben sein würde.
Isidor promoviert als Jurist und steigt schnell die Karriereleiter hoch. Er hat Glück, denn in seiner Funktion als Leiter eines kriegswichtigen Betriebes muss er nicht an die Front. Mit zusätzlichen Geschäften auf dem Schwarzmarkt verdient er gutes Geld, das er gewinnbringend anlegt. Und als der Erste Weltkrieg vorbei, das große Habsburgerreich Geschichte war, ist Isidor ein sehr reicher Mann.
Er wird Kommerzialrat und gibt Gesellschaften für die obersten Kreise Wiens.
Privat hat der Bonvivant und Frauenfreund weniger Glück. Zwei Ehen scheitern, eine junge Geliebte macht ohne ihn Karriere in Hollywood.
Doch all sein Geld und sein Ansehen nützen nichts, als die Nazis auch in Österreich an die Macht kommen. Wie so viele hat er deren Vernichtungswahn unterschätzt und seine Reputation überschätzt.
Isidor ist eine schillernde Figur. Er war stolz auf seinen gesellschaftlichen und finanziellen Aufstieg, von der armseligen Hütte im fernen Galizien bis in den Ersten Bezirk Wiens. Der Liebhaber von Kunst, Musik und schöner Frauen war genussfreudig und großzügig, konnte aber auch herrisch und bestimmend sein.
Neben dem titelgebenden Isidor streift die Autorin aber auch immer wieder die Lebenswege anderer Familienmitglieder und Menschen aus dem näheren Umfeld ihres Urgroßonkels. So entsteht ein anschauliches Bild jüdischen Lebens in jener Zeit.
Obwohl ich wirklich gut über das Thema Nationalsozialismus und Holocaust Bescheid weiß, konnte mich die Autorin mit einem speziellen Detail überraschen. Wer hätte gedacht, dass der „ Stürmer“- Herausgeber und Judenfresser Julius Streicher in ganz Europa eine Bibliothek jüdischer Literatur zusammengeraubt hat ? Heute befindet sich die sog. „ Stürmer - und Streicherbibliothek“ in Nürnberg , verwaltet von der Israelitischen Kultusgemeinde. Shelly Kupferberg stieß darin tatsächlich auf ein Buch aus dem Besitz ihres Urgroßonkels.
Das Buch liest sich flüssig und fesselt von Beginn an. Der Schreibstil ist eher nüchtern und sachlich, trotzdem geht dem Leser das Schicksal der Personen sehr nahe.
Ein schmales Buch, das aber mehr als ein bemerkenswertes Leben umfasst.