Rezension Rezension (5/5*) zu I get a bird von Anne von Canal u. Heikko Deutschmann

Buchschatzi

Neues Mitglied
26. August 2021
7
6
4
40
Buchinformationen und Rezensionen zu I get a bird von Anne von Canal
Kaufen >

Ein humaner *Vogel*, den man kennenlernen sollte!

„I get a bird“: Dieser seltsame, wunderbare Vogel ist ein Novum nach einer gewagten Idee von Anne von Canal in Gestalt eines Briefwechsels. Und zwar nicht von einem, sondern von zwei Autoren verfasst. Ihren glänzenden partner in crime fand sie im befreundeten Schauspieler Heikko Deutschmann.

Die Autoren begaben sich hierfür in die Haut fiktiver Personen. Ein hohes Risiko und eine Menge Vergnügen war für beide im Spiel: keine Absprache.

Jeder wusste vom anderen nur soviel wie alle späteren Leser: nämlich nicht mehr als das, was man aus den Briefen erfahren kann. Weder Geschlecht, noch Alter, noch Herkunft, Name… nichts war bekannt.

Statt Konstruktion also Improvisation. Statt Alleingang eine Kooperation. Und mit einem Briefwechsel ein Anachronismus, der eigentlich einer rationalen Begründung bedarf. Und wenn man nicht das übliche Hilfsmittel einer Liebe bedient (siehe „Gut gegen Nordwind“), was kann dann zwei wildfremde Menschen veranlassen, sich (wie hier) über sechs Monate zwei Dutzend (auch für andere Leser) lesenswerte Briefe zu schreiben?

Der Reiz der Lösungen, welche die Autoren auf ihrer (tatsächlich zwei Jahre währenden) Reise ins Ungewisse fanden, wirkt umso zauberhafter auf den Leser, weil man hier einmal fast das Privileg besitzt, den Entstehungsprozess einer Geschichte in Gedanken beim Lesen mitzuerleben.

Wie man sich da ein Blatt ums andere darbietet, das abgelehnt oder angenommen oder abgewandelt wird, wie man versucht, Verbindungen zu knüpfen und gleichzeitig Kontraste zu nähren, wie man schließlich die fühlbare Erleichterung beider, der Autoren wie ihrer Figuren, mit zu teilen vermag, wenn endlich das Licht der Notwendigkeit das Dunkel der Aussichtslosigkeit verbannt – das alles ist ein kleines Wunder an sich, denn die Autoren lassen mit ihrem erstaunlichen Können die Unreife der Improvisation zwischen den Zeilen gehörig untergehen.

Zwei Fremde finden sich hier durch einen Zufall, ein Fundstück, das der Finder an den Besitzer zurückschickt. Viele Zufälle später und Jana und Johan wissen voneinander: Ihre derzeitige gemeinsame Heimat ist kein durchschnittlicher Alltag sondern der Abgrund (wenn auch aus verschiedenen Gründen auf verschiedenen Etagen). Chaos, Trauma, Leid, Verlust, Schuld, Angst und die Unbeweglichkeit, welche diese mit sich bringt. Eine wahrhaft grauenhafte irdische Palette entfalten die beiden vor- und füreinander und der Leser leidet und lächelt/lacht (denn wenn hier der Humor zum Zuge kommt, dann sitzt er unerbittlich), je nach eigener Konstitution und Empathie, kräftig mit.

Beider Einsamkeit, bzw. Isolation erklärt die spontane Offenheit, die starke Sehnsucht nach dem Entdecken und dem Teilen in und aus der Unsichtbarkeit heraus. (Und sogar auf verschlungenen Wegen den Anachronismus eines Briefwechsels!) Eine distanzierte Intimität ist möglich, weil das Gegenüber unbekannt, fast unwirklich, da ohne Gestalt, Gesicht und Stimme ist und nur auf Papier, durch Buchstaben, Worte, Sätze, also nur aus reinsten Gedanken zu leben versteht. Man fühlt sich sicher. Man fühlt sich frei. Und gleichzeitig geborgen. Und durch verbindende Ähnlichkeiten sieht man sich sogar gespiegelt.

Auf ein Ende in Selbstbespiegelung läuft diese fesselnde Begegnung selbstverständlich nicht hinaus, denn man entdeckt ein Wunder oder besser gesagt eine Geschichte, welche einen Ausweg aus der Gegenwart in die Zukunft eröffnet: In beider Vergangenheit findet sich ein entfernter Berührungsmoment. Ohne ihr Wissen und ohne aktives Zutun nahm Jana für Johan damals eine Retterrolle ein. Und was nun passiert…

Was dieses Buch neben becircenden Einlagen, urkomischen Wendungen und seiner dunklen Sogwirkung menschlichen Elends so ungeheuer einnehmend wirken lässt, ist vielleicht gerade dieses Phänomen… So wie die Autoren nur miteinander konnten, ja sogar mussten, so ist es selbstredend auch mit ihren Figuren. Und es ist ein Verdienst Johans/Deutschmanns, mit irritierenden Konstruktionsleistungen, eine so seltsam traurige wie beglückende Atmosphäre zu schaffen, in der man endlich einmal glauben darf, dies ist ein universelles Gesetz: sich gegenseitig immer wieder zu retten.

Oder zumindest irgendwie den Versuch zu unternehmen… keep on trying!
 
Zuletzt bearbeitet:

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.250
49.196
49
Lieber @Buchschatzi ,
Deine Begeisterung dringt aus jeder Zeile und deine Besprechung geht weit über "das Übliche" hinaus, liefert einen Hintergrund zum Entstehungsprozess sowie einen Interpretationsansatz. Vielen Dank dafür, dass du unserer Bitte nachgekommen bist!

Ich selbst sagte ja schon, dass ich zwei Bücher Anne von Canals bereits begeistert gelesen habe. Mit diesem tue ich mich noch schwer, bin über die ersten Seiten nicht hinaus gekommen und muss wohl neu durchstarten.
Du machst auf alle Fälle Lust darauf;)!
 
  • Stimme zu
Reaktionen: Xirxe