Rezension (5/5*) zu Hundert Augen von Samanta Schweblin

Christian1977

Bekanntes Mitglied
8. Oktober 2021
2.651
12.956
49
47
Sind wir nicht alle ein bisschen Kentuki?

Es kostet 279 Dollar, sieht aus wie ein Plüschtier auf Rädern und hinter seinen Augen versteckt sich eine Kamera. Sein Name: Kentuki. Ein Kentuki kann ein Panda sein, eine Krähe, ein Drache, ein Kaninchen oder eine Eule. Doch egal, welches Tier man auswählt - dahinter steckt immer ein Mensch. Ein Mensch, der ein Haus weiter wohnen kann oder am anderen Ende der Welt. Abhängig ist das Kentuki von seinem "Herrn", sprich von demjenigen, der es käuflich erworben hat. Oder ist es genau andersherum?

Samanta Schweblin erzählt in ihrem Roman "Hundert Augen" von einer Gesellschaft voller Einsamkeit, Schmerz und Wut - und das ungemein beeindruckend. Was auf den ersten Blick wie eine Dystopie wirkt, ist in Wahrheit gar keine. Zwar können wir (noch) keine Kentukis kaufen, doch ansonsten sind es Menschen von heute, die diesen Roman prägen. In der immer stärker digitalisierten Welt, in der wir heute leben, wirkt es gar nicht so unwahrscheinlich, dass man beim nächsten Besuch eines Verwandten ein kleines Stofftier auf Rädern bei ihm entdeckt.

Die Kentukis aus dem Roman sind mehr als stille Beobachter. Sie wollen ihrer Einsamkeit entkommen, indem sie am Leben eines völlig fremden Menschen teilnehmen wie Emilia aus Lima, deren Sohn wegen der Arbeit nach Hongkong gezogen ist. Sie sehnen sich nach Freiheit und nach Schnee und wollen den Tod der Mutter vergessen lassen wie der kleine Marvin, der auf Antigua lebt. Manchmal müssen sie eingreifen, um ein Verbrechen zu verhindern wie Grigor aus Kroatien, der sogar mit Kentuki-Schauplätzen handelt.

Schweblin hat ihren Roman als Episodenroman konstruiert, wobei fünf Figuren im Mittelpunkt stehen, die entweder Kentuki spielen oder sich selbst ein Kentuki angeschafft haben. Zwischendurch setzt sie immer wieder einzelne Blitzlichter von Kentuki-Geschichten, die nur einmal auftauchen, den fünf Haupterzählungen aber einen facettenreichen Unterbau liefern.

"Hundert Augen" ist dabei so klug wie unterhaltsam, ein Roman, der zum Lachen und Weinen anregt - manchmal sogar gleichzeitig. Tieftraurige Episoden wie der Suizid eines Kentukis, der ohne seinen verstorbenen "Herrn" nicht mehr weiterspielen will, bleiben dabei ebenso lange im Gedächtnis wie die auf den ersten Blick äußerst skurril wirkende Episode um Alina, die Freundin eines Künstlers, die ihre eigene Unsichtbarkeit nicht mehr aushält und ihre Wut komplett am Kentuki auslässt - mit gravierenden Folgen.

Samanta Schweblin hält den LeserInnen dabei gekonnt den Spiegel vor. Hätten wir nicht auch Lust, einem solchen kleinen Kameraden ein Zuhause zu geben? Oder machen wir das vielleicht sogar schon, indem wir uns mit Geräten unterhalten, die Frauennamen tragen und auf alles eine Antwort wissen? Oder andersherum: Wie weit würden wir eigentlich gehen, wenn wir plötzlich die Möglichkeit hätten, einen fremden Menschen nahezu rund um die Uhr zu beobachten - wobei: Haben wir diese Möglichkeit nicht in diversen Fernsehformaten schon?

Fazit: Mit "Hundert Augen" ist Samanta Schweblin ein bewegender und mitreißender Gesellschaftsroman gelungen, der die großen Fragen nach Moral, Liebe und Menschlichkeit stellt, ohne mit dem erhobenen Zeigefinger die Antworten zu geben. Ein lange nachwirkendes Ereignis.

 

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.639
16.697
49
Rhönrand bei Fulda
Ich habe eben hier die Suche bemüht, weil ich die Verfilmung eines Romans von Schweblin, "Das Gift", auf Netflix gesehen habe. Ich hatte von dieser Autorin noch nie gehört und habe mir sofort "Hundert Augen" und einen Erzählband auf die Merkliste der Onleihe gelegt ("Das Gift" gibt es dort nicht). Diese Autorin möchte ich kennen lernen.
 

Beliebteste Beiträge in diesem Forum