Rezension (5/5*) zu Hätte ich dein Gesicht: Roman von Frances Cha

Literaturhexle

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Buchinformationen und Rezensionen zu Hätte ich dein Gesicht: Roman von Frances Cha
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Abgründe einer aufstrebenden Gesellschaft

Wenn man den Roman zuklappt, hat man einiges über die südkoreanische Kultur und Gesellschaft erfahren. Liegt dort wirklich soviel im Argen? Sind Schönheit, Geld, Beziehungen und Status wirklich die einzigen Währungen, in denen man in diesem Land sozialen/beruflichen Aufstieg bezahlen kann? Hat man ohne diese Attribute keine Chance?

Frances Cha hat ihren fesselnden Roman multiperspektivisch angelegt. Abwechselnd erzählen fünf Frauen über ihr Leben in der Metropole Seoul. Einige von ihnen sind schon lange miteinander befreundet, alle wohnen in einem preisgünstigen Officetel, weil sie sich eine richtige Wohnung nicht leisten können. Nur Wonna ist verheiratet, sie wohnt ein Stockwerk unter den anderen. Sie hadert nach mehreren Fehlgeburten mit ihrer Schwangerschaft und vielen Ängsten. Alle sind etwa Mitte zwanzig, haben Sehnsüchte und Träume, die sich angesichts ihrer schwachen sozialen Stellung allerdings nur schwer verwirklichen lassen.

Kyuri arbeitet in einem der besten Room Salons im Vergnügungsviertel Gangnam. Bei diesen Salons handelt es sich um allgemein akzeptierte, kostspielige Etablissements, in die reiche Geschäftsleute ihre Freunde und Kunden einladen. Junge, attraktive Frauen stehen ihnen zwecks Unterhaltung/Amüsement zur Verfügung, hinter vorgehaltener Hand auch für sexuelle Dienste. Kyuri hat bereits über 30 Schönheitsoperationen über sich ergehen lassen, um mit dem perfekten Gesicht an diesen Job zu kommen. Von ihrer Freundin Suyin wird sie darum beneidet. Deshalb plant Suyin ebenfalls einen umfassenden kosmetischen Eingriff, um vom Nagelstudio in einen Room Salon „aufsteigen“ zu können. Mit ihr zusammen wohnt Miho, die ein Kunst-Stipendium bis nach New York geführt hat. Es waren glückliche Umstände, die ihr diese Ausbildung ermöglicht haben. Ihre Werke werden geschätzt, ihr Professor hält große Stücke auf sie. Ara hat ein traumatisches Erlebnis in der Jugend verstummen lassen. Trotz dieses Handicaps hat sie eine feste Anstellung im Friseurgeschäft, wo sie jedoch einiges an Schikanen zu erleiden hat. Sie schwärmt frenetisch für einen Pop-Sänger. Suyin ist ihr eine treue, fürsorgliche Freundin.

Während die Frauen von ihrer Vergangenheit, ihrer (fehlenden) Familie und ihrem Beruf erzählen, wird der westliche Leser immer wieder davon überrascht, dass in Südkorea offensichtlich so vieles anders ist als hierzulande. In keinem Land werden offenbar so viele schönheitskosmetische Eingriffe vorgenommen. Die Gesellschaftsordnung ist streng hierarisch geprägt: „Trotz seiner Millionen Menschen ist Korea so groß wie ein Goldfischglas, da blickt immer Irgendjemand auf jemand anderen herab.“ S. 75. Ein gesunder Mittelstand fehlt fast völlig, neben den großen multinational agierenden Technologiekonzernen gibt es noch die „Chaebols“ als einflussreiche Familienunternehmer neben unzähligen Kleinbetrieben, in denen die Arbeitnehmer schlecht behandelt oder ausgebeutet werden. Die Menschen arbeiten wie Maschinen, haben längste Arbeitszeiten, für die sie aber gemessen an den Lebenshaltungskosten zu wenig Lohn bekommen. Bildung und Wohnen sind teuer. Frauen leiden zudem unter einem starken Lohngefälle ihren männlichen Kollegen gegenüber, finanziell abgesicherte Mutterschaft gibt es nicht. Südkorea hat die niedrigste Geburten- und die zweithöchste Suizidrate der Welt. Die Rollen sind traditionell verteilt, Frauen werden in vielerlei Hinsicht gesellschaftlich benachteiligt. Der soziale Druck, eine Ehe einzugehen, ist groß. Tut man es, heiratet man die Familie des Mannes gleich mit und unterliegt vielfach der Kontrolle der Schwiegereltern.

Diese empörenden Zustände verdeutlicht Frances Cha, indem sie ihre Protagonistinnen erzählen und erleben lässt. Die Frauen sind jung, jede träumt von einem besseren Leben. Auch wenn Kyuri der Star in ihrem Room Salon ist, wird weder ihre Abhängigkeit von Madam noch die von den mächtigen Gästen verschwiegen. Ertragen kann Kyuri das nur mit einer Menge Alkohol. Zwei der Frauen haben auch Beziehungen mit reichen Männern, die sie im Fall einer Heirat sozial aufsteigen lassen würden. Trotz romantischer Gefühle machen sie sich darauf aber keine großen Hoffnungen: Männer heiraten innerhalb ihres Standes, auch sie sind ihrer Familie verpflichtet. Wonna hat einen Ehemann, doch reichen beide Einkommen im Grunde nicht aus. Auch sie fühlt sich zerrissen von den Umständen, hat Zukunftsängste.

Dieser sozialkritische Roman liest sich ungemein spannend. Die Autorin lässt uns nicht nur an Vergangenheit und Gegenwart Ihrer Figuren teilhaben, sondern auch an deren persönlichen Reflexionen. Dadurch kann man ihr Schicksal und ihre Sehnsüchte nachvollziehen. Sie sind keine Traumtänzerinnen, sondern hinterfragen Entscheidungen und sind zu sich selbst sehr ehrlich. Sie möchten sich jenseits ihrer schlechten Startpositionen weiterentwickeln und ein sicheres Auskommen erreichen. Die Autorin verzichtet in ihrer Geschichte weitgehend auf Stereotype. Es wäre so leicht, jeden auftretenden Mann als chauvinistischen Despoten und alle Frauen als Heilige darzustellen. Es gibt berührende Szenen, dramatische, nachdenkliche - die Mischung halte ich für sehr ansprechend. Durch die verschiedenen Perspektiven ergibt sich ein immer kompletteres Bild, Zusammenhänge erschließen sich.

Neben aller Gesellschaftskritik lese ich den Roman auch als Aufruf zu Frauenfreundschaft und Solidarität. Kyuri, Suyin, Miho, Wonna und Ara stehen einander in schweren Situationen bei, hören sich zu und unterstützen sich gegenseitig. Das macht sie zu einem starken Team. Sie wollen selbstbestimmt und unabhängig leben. Allerdings fragt man sich, wie lange ihnen das noch möglich sein wird. Was, wenn bei Suyin und Kyuri die Schönheit verblasst, welche Aussichten haben sie dann noch? Auch mit dem Gedanken beschäftigt sich Frances Cha, bleibt aber bis zum Ende Realistin.

Ich möchte dieses eindrucksvolle Buch allen Lesern ans Herz legen, die sich gerne mit fremden Kulturen auseinandersetzen. Hinter den glänzenden Fassaden von Samsung, Hyundai und LG gibt es in Korea in sozialer Hinsicht noch viel zu tun. „Hätte ich dein Gesicht“ zeigt die Schattenseiten einer hierarchischen, männerdominierten Klassengesellschaft anhand von fünf Frauenbiografien auf. Ein Kompliment gilt der fabelhaften Übersetzung aus dem Englischen von Nicole Seifert. Unbedingt lesenswert!

 

Wandablue

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Aber trotz allem scheint doch allmählich ein bisschen Hoffnung aufzuschimmern, was die Romane bezüglich der Kritik an den ges. Zuständen zeigt, Romane, die sogar bis zu uns kommen! Es wäre schön ... wenn etwas aufbrechen könnte.

"multiperspektivisch" ist wohl unser neues Modewort. Ich lese es jetzt häufig in Rezensionen. Nicht dass es falsch wäre ... aber was hat man wohl "früher" gesagt *ggg*.
 
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aber was hat man wohl "früher" gesagt *ggg*.
Verschiedene Figuren schildern....
Das Geschehen wird aus unterschiedlichen Positionen...
Cha erzählt aus fünf unterschiedlichen Sichtweisen heraus...
Andere Aspekte werden beleuchtet...

Aber multiperspektivisch klingt doch viel eleganter und kürzer;)
 
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Verschiedene Figuren schildern....
Das Geschehen wird aus unterschiedlichen Positionen...
Cha erzählt aus fünf unterschiedlichen Sichtweisen heraus...
Andere Aspekte werden beleuchtet...

Aber multiperspektivisch klingt doch viel eleganter und kürzer;)
Es klingt wirklich flott. Aber es fällt mir halt auf, dass es "neu" ist und man es nun überall liest.
 
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Freut mich tierisch, @alasca , dass dich der Roman ebenso begeistert hat! Auch empfehlen kann man diesen Roman über Südkorea, der sich aber etwas weniger unmittelbar anfühlt:
"Kim JiYoung, geboren 1984"