Rezension (5/5*) zu Goyas Ungeheuer von Berna González Harbour

Die Häsin

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Buchinformationen und Rezensionen zu Goyas Ungeheuer von Berna González Harbour
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Intelligenter Krimi"bilder"bogen mit feinen Charakteren

"María nahm gleich zwei Stufen auf einmal", mit diesem charakteristischen Satz beginnt das erste Kapitel dieses fulminanten Krimis. Die Comisaria María Ruiz wurde wegen Gehorsamsverweigerung gegenüber ihrem Vorgesetzten vom Dienst suspendiert und erwartet ein Gerichtsverfahren, in dem der Vorwurf verhandelt werden soll. Einstweilen darf sie weder arbeiten noch eine Waffe tragen. Zu Fuß oder mit dem Fahrrad wandert sie durch die Metropole Madrid, trifft sich privat mit ihren Freunden und früheren Mitarbeitern, dem flotten Martín, ihrem ehemaligen Stellvertreter Esteban, dem Journalisten Luna. Doch alsbald fällt María eine Serie merkwürdiger Vorfälle buchstäblich vor die Füße. In dem Viertel, in dem Martín wohnt, werden drei tote Truthähne in merkwürdiger Weise auf der Straße zur Schau gestellt, kurz darauf Martíns kleiner Hund umgebracht. Und schließlich kommt ein Mord an einer Kunststudentin dazu. Obwohl die suspendierte María sich in Teufels Küche bringen könnte, kann sie es nicht lassen, Nachforschungen anzustellen. Die Ermordete, Sara mit Namen, hat sich vor allem mit dem Maler Goya beschäftigt und wurde in auffälliger Weise einer wenig bekannten Zeichnung von Goya entsprechend auf einer Flussschleuse zur Schau gestellt. Verdächtig ist vor allem der Professor Salas, der sie betreute, aber auch ihre Wohngenossen in dem besetzten Haus "Dragona" könnten in den Fall verwickelt sein. Und es tauchen Hinweise auf einen geheimnisvollen Fremden namens Yago auf. Nebenher laufen Marías ungeklärtes dienstrechtliches Verfahren und eine unglückliche Beziehung zu einem früheren Kollegen namens Tomas, der sich aus ihrem Leben verabschiedet hat, nachdem er durch einen Unfall an den Rollstuhl gefesselt wurde. Das Buch bietet eine Unmenge Stoff. Eine interessante Abwechslung sind einige kursiv dazwischen geschaltete Kapitel, in denen persönliche Begegnungen eines anonymen Erzählers mit dem Maler Goya beschrieben werden.


Kunstkrimis liegen im Trend. Goyas geheimnisvolle Darstellungen von Hexensabbaten und aufgewühlten Menschengruppen, die z.T. auch Kunsthistorikern noch immer Rätsel aufgeben, werden nicht zum ersten Mal in einem Thriller zitiert. Der Autorin Berna González Harbour, die selbst - wie sie in einem Interview am Ende des Buches erzählt - von Goya begeistert ist, hat dankenswerter Weise der Versuchung widerstanden, Goya ausschließlich über seine gespenstischen "schwarzen Gemälde" zu definieren. In "Goyas Ungeheuer" wird der klassiche Maler als das beschrieben, was er war: ein genialer Porträtist und klarsichtiger Chronist seiner Zeit, - darüber hinaus von finsteren Visionen heimgesucht, vermutlich infolge seiner Taubheit, die sich nach einer schweren Krankheit in seinen mittleren Jahren ausbildete. Mit Fortschreiten der Ermittlung werden immer wieder neue Bezüge zu Gemälden und Grafiken von Goya hergestellt. Das Buch enthält kleine Reproduktionen dieser Bilder, die zum Verständnis ausreichen, zum genaueren Betrachten aber auch leicht bei Wikimedia gefunden werden können. Irgendwelche Vorkenntnisse über das Leben des Malers sind für die Lektüre nicht erforderlich, aber das Buch macht entschieden Lust darauf, sich näher mit Goya zu befassen.

Es bietet überdies noch eine Menge Feinheiten, die es weit über den gängigen Krimidurchschnitt hinausheben. Da ist einmal die feine Charakterisierung der sympathischen Hauptfiguren und ihres Milieus. Die Autorin entfaltet einen reichen Bilderbogen des aktuellen Madrid, des Stadtbilds und der Gesellschaft - von der Intellektuellenszene, für die der verdächtige Professor steht, bis hinunter zu den abenteuerlich gekleideten gesellschaftlichen Randfiguren im besetzten Haus (das es übrigens wirklich gibt, es liegt am Rand des riesigen städtischen Friedhofs) und einer Gruppe obdachloser Menschen, die mit ihrer in Einkaufswagen gebündelten Habe in einem unterirdischen Kanalsystem leben. Ein großer Pluspunkt ist die sensible, liebevolle Darstellung des jungen Eloy, dem María in dem besetzten Haus begegnet - ein Fünfzehnjähriger, der barfuß geht oder mit einem rostigen Fahrrad fährt, für das ganze Haus kocht und welkes Gemüse containert. Dieser auf sich allein gestellte Junge, der in seiner ernsthaften Integrität so verletzlich wirkt, muss jeden Leser anrühren.

Die Autorin verweigert sich auf sympathische Weise vielen Krimiklischees. Die einzige Verfolgungsjagd findet mit klapprigen Fahrrädern statt, es gibt weder krasse Gewaltdarstellungen noch die üblichen krampfhaft-dramatischen Aufgipfelungen im Finale (das nichtsdestotrotz spannend und wendungsreich ausfällt). María erleidet die üblichen Blessuren, denen kein Krimi-Ermittler entgeht, aber bei ihr handelt es sich um Prellungen durch einen selbst herbeigeführten Fahrradunfall und den Sturz in einen Kaktus - erfrischend unkonventionelle Wendungen, die gängige Krimi-Versatzstücke gegen den Strich bürsten. Der einzige Kritikpunkt, den man anbringen könnte, ist eigentlich wieder ein Pluspunkt - "Goyas Ungeheuer" ist Teil einer Reihe, die bisher nicht auf Deutsch erschienen ist, und es gibt etliche Rückbezüge auf eine Vorgeschichte, die deutsche Krimifreundinnen und -freunde folglich nicht kennen. Das mindert die Lesefreude nur marginal, aber es wäre jedenfalls zu begrüßen, wenn sich der Verlag entschließen könnte, die ganze Reihe aufzulegen. Mich hat die agile María Ruiz und ihr Team gewonnen. Ein Highlight in der Krimiszene für Freunde anspruchsvoller Krimis, spannend und unterhaltsam - und am Ende hat man richtig Lust, Madrid kennen zu lernen (oder die Bekanntschaft aufzufrischen) und vielleicht sogar die Goya-Ausstellung im Prado zu besuchen. Leseempfehlung und dringende Bitte an den Verlag, die komplette Serie zu präsentieren. Estaría feliz de leer más, Pendragon!

 

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Das klingt nach einem Krimi, der mir als Nicht-Krimileserin gefallen könnte.
Ich hatte mal wieder Gelegenheit darüber nachzudenken, warum wohl die deutsche Krimiszene so arm ist, verglichen mit der spanischen oder französischen. Wir haben keine Autorinnen wie Saenz oder Redondo oder Vargas oder oder ... es sei denn, mir ist was Wichtiges entgangen, dann lasse ich mich gerne belehren! (Ich muss euch bei Gelegenheit unbedingt noch Carlos Fuentes und Pablo Tusset vorstellen ....)
 

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Wir haben keine Autorinnen wie Saenz oder Redondo oder Vargas oder oder ..
Ich bin ja nicht von der Krimifraktion. Aber man tut vielleicht den deutschen Autoren Unrecht. Friedrich Ani oder Jan Costin Wagner haben schon einige faszinierende Krimis vorgelegt. @Christian1977 würde Matthias Wittekindt noch hinzuzählen. Naja und Sebastian Fitzeck gibt es auch noch :apenosee (Nicht schlagen bitte...!)
 

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Ich bin ja nicht von der Krimifraktion. Aber man tut vielleicht den deutschen Autoren Unrecht. Friedrich Ani oder Jan Costin Wagner haben schon einige faszinierende Krimis vorgelegt. @Christian1977 würde Matthias Wittekindt noch hinzuzählen. Naja und Sebastian Fitzeck gibt es auch noch :apenosee (Nicht schlagen bitte...!)
Wittekindt ist wirklich recht gut. Ich mag auch Jan Seghers, obwohl es von dem wohl nichts Neues mehr gibt. Und von Ani habe ich gerade einen hereinbekommen - ich weiß im Moment den Titel nicht mehr, es ist jedenfalls der mit den sechs Stunden schweigenden Beistands (ist auch recht gut verfilmt worden). Aber das Lokalkolorit, die Lebendigkeit wie bei den genannten Spanierinnen sucht man hier oft vergebens. Da müsste man zu Regionalkrimis greifen, und die sind wiederum meistens eher schlicht und so bemüht originell. Na ja, da gibts sicher auch noch ungehobene Schätze. Zu Fitzek sag ich jetzt aber nix. :grinning

ps. Der Krimi von Ani ist aufgetaucht: "Der namenlose Tag" ist der Titel. Werde ich in den nächsten Tagen lesen und berichten.
 
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(Nicht schlagen bitte...!)
Viel fehlt nicht!!! :smilehorn

Ich BIN von der Krimifraktion (und der Fantasy, Phantastik und Sci-Fi-Fraktion, kurzum der Gute-Bücher-Fraktion) und nenne hier zur deutschen Ehrenrettung Doris Gercke (Bella Block), Monika Geier, Elisabeth Herrmann, Zoe Beck, Norbert Horst, Wolfgang Kaes, Frank Schulz (die Onno-Viets-Krimis: großartig. Subversiv, witzig, hintergründig), Jan Weiler, Susanne Saygin (Thriller, aber was für welche), Wolfgang Schorlau, Andreas Pflüger, Jörg Maurer, Johannes Groschupf mit seinen Berlin-Thrillern ...

Also von Thriller über Dystopisches bis Satire ist alles vertreten, mit ganz viel Originalität. Da muss man den unsäglichen Blutpornographen gar nicht ins Feld führen.
 
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Wittekindt ist wirklich recht gut. Ich mag auch Jan Seghers, obwohl es von dem wohl nichts Neues mehr gibt. Und von Ani habe ich gerade einen hereinbekommen - ich weiß im Moment den Titel nicht mehr, es ist jedenfalls der mit den sechs Stunden schweigenden Beistands (ist auch recht gut verfilmt worden). Aber das Lokalkolorit, die Lebendigkeit wie bei den genannten Spanierinnen sucht man hier oft vergebens. Da müsste man zu Regionalkrimis greifen, und die sind wiederum meistens eher schlicht und so bemüht originell. Na ja, da gibts sicher auch noch ungehobene Schätze. Zu Fitzek sag ich jetzt aber nix. :grinning

ps. Der Krimi von Ani ist aufgetaucht: "Der namenlose Tag" ist der Titel. Werde ich in den nächsten Tagen lesen und berichten.
Ani fand ich mal gut, vor allem die Reihe um das Vermisstenkommissariat, der wird nur in den letzten Jahren immer depressiver/deprimierender, das Gleiche gilt für Jan Seghers mit seinem pädophilen Kommissar.
 
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Ani fand ich mal gut, vor allem die Reihe um das Vermisstenkommissariat, der wird nur in den letzten Jahren immer depressiver/deprimierender, das Gleiche gilt für Jan Seghers mit seinem pädophilen Kommissar.
Jan Seghers hat einen pädophilen Kommissar?
Das wäre mir aber entgangen. Oder meinst du Jan Costin Wagner?
Einige von denen, die du genannt hast, kenne ich. Von Doris Gercke, Zoe Beck, Elisabeth Herrmann habe ich ein paar Sachen gelesen - am besten gefällt mir noch letztere; Andreas Pflüger und Jörg Maurer sind nicht mein Fall. Aber ich sehe ein, dass ich in meinem Urteil zu hart war; es ist ja auch ein reines Geschmacksurteil. Ich dachte an die vielen, vielen Krimis deutscher bzw. deutschsprachiger Autoren und Autorinnen, die ich mir in den letzten zwei Jahren runtergeladen und nach ein paar Seiten abgebrochen habe: darunter welche von Andreas Gruber, Nele Neuhaus, Rainer Löffler, Max Bentow, Sabine Thiesler, Charlotte Charonne, Arno Strobel und und und ... Der letzte, den ich hatte, war eine derartige Katastrophe, dass ich mich lieber gar nicht erinnern würde - es war "Totentier". Im Vergleich dazu liefert etwa Max Bentow immerhin musterhafte Tatortarbeit ab, aber ich fand "Schmetterlingsjunge" so trocken wie Toast von gestern. Vielleicht stelle ich einfach unangemessene Ansprüche an den Stil. Für mich muss auch ein Krimi eine Spur von Poesie haben.

Die besten Krimis sind sehr oft die, die gar nicht als solche verkauft werden.

Nach Susanne Saygin werde ich auf jeden Fall mal suchen gehen und einigen anderen Namen, die genannt wurden, auch. Den Tipp mit Wittekindt hatte ich ja auch von hier, das war ein Krimi "mit Charakter", wie ich es erwarte.
 
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Jan Seghers hat einen pädophilen Kommissar?
Irrtum! :eek:
Das wäre mir aber entgangen. Oder meinst du Jan Costin Wagner?
Ja genau. Seghers hätte auch auf meine Liste gemusst.
Einige von denen, die du genannt hast, kenne ich. Von Doris Gercke, Zoe Beck, Elisabeth Herrmann habe ich ein paar Sachen gelesen - am besten gefällt mir noch letztere; Andreas Pflüger und Jörg Maurer sind nicht mein Fall. Aber ich sehe ein, dass ich in meinem Urteil zu hart war; es ist ja auch ein reines Geschmacksurteil. Ich dachte an die vielen, vielen Krimis deutscher bzw. deutschsprachiger Autoren und Autorinnen, die ich mir in den letzten zwei Jahren runtergeladen und nach ein paar Seiten abgebrochen habe: darunter welche von Andreas Gruber, Nele Neuhaus, Rainer Löffler, Max Bentow, Sabine Thiesler, Charlotte Charonne, Arno Strobel und und und ... Der letzte, den ich hatte, war eine derartige Katastrophe, dass ich mich lieber gar nicht erinnern würde - es war "Totentier". Im Vergleich dazu liefert etwa Max Bentow immerhin musterhafte Tatortarbeit ab, aber ich fand "Schmetterlingsjunge" so trocken wie Toast von gestern. Vielleicht stelle ich einfach unangemessene Ansprüche an den Stil. Für mich muss auch ein Krimi eine Spur von Poesie haben.
Absolut! Und die, die du oben nennst, fasse ich nicht an. Nele Neuhaus - derart trutschig und phrasenhaft, dass es einen graust.
Die besten Krimis sind sehr oft die, die gar nicht als solche verkauft werden.

Nach Susanne Saygin werde ich auf jeden Fall mal suchen gehen und einigen anderen Namen, die genannt wurden, auch. Den Tipp mit Wittekindt hatte ich ja auch von hier, das war ein Krimi "mit Charakter", wie ich es erwarte.
Saygin ist der Hammer! Dieser Thriller ist eins der beeindruckendsten Bücher der letzten Jahre, nicht nur im Genre.
 
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