Rezension (5/5*) zu Gentleman über Bord von Herbert Clyde Lewis

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29. März 2022
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Mainz
Buchinformationen und Rezensionen zu Gentleman über Bord von Herbert Clyde Lewis
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Ein wertvoller Leseschatz

Im Original erschien "Gentleman über Bord" von Herbert Clyde Lewis bereits im Jahr 1937. Es ist das Verdienst des Mare Verlages, dieses zu recht als "genial kompiniertes Meisterstück" eingeordnete Werk in einer wunderschönen Ausgabe neu aufgelegt zu haben. Es ist ein schmaler Roman, der es aber in sich hat und mich von der ersten bis zur letzten Seite begeistert hat. Nun bin ich fast traurig, diesen überaus kostbaren literarischen Schatz nicht mehr neu entdecken zu können, denn tatsächlich geschieht es auch Viellesern nicht allzu oft, dass sie in derr Flut an jährlichen Neuerscheinungen eine Perle von solch unermesslichem literarischen Wert aufspüren.

Schon die vorangestellten persönlichen Worte der Programmleiterin des Verlags, Judith Weber, haben meine Neugierde auf die Geschichte immens gesteigert. In knappen, präzisen Worten schildert sie den Inhalt von Lewis' Werk und begründet so ihre Motivation, das Werk in die Klassikerreihe des Mare Verlages aufzunehmen. Worum geht es also?

Im Mittelpunkt von "Gentleman über Bord" steht der erfolgreiche Geschäftsmann Henry Preston Standish. Er hat viel im Leben erreicht, doch dann wird er eines Tages von einer Art Lähmung befallen und wird sich der Notwendigkeit bewusst, aus seinem Alltag auszubrechen. Seine Frau zeigt sich verständnisvoll und kurz entschlossen tritt Standish schon bald eine Schiffsreise an. Lewis beschreibt nur kurz die Idylle des Meeres und die Schönheit der Sonnenauf- und Untergänge, bevor er den Leser quasi ins kalte Wasser schmeißt - genauso wie seinen Hauptprotagonisten Standish. Natürlich wird dieser nicht wirklich über Bord geworfen, nein! Die Ironie des Schicksals ist, dass selbst einem erfolgreichen Geschäftsmann, einem angesehenen Gentleman ein winzig kleiner Fehltritt genügt, um ins Verhängnis zu stürzen: Nach einem Fehltritt rutscht Standish auf einem Ölfleck aus und landet gleich darauf in den Fluten des Ozeans. Er, der Gentleman, paddelt plötzlich hilflos im großen Ozean. Was für ein symbolträchtiges Bild! Denn egal, was man im Leben erreicht, wie erfolgreich man ist, Gentleman hin oder her: Am Ende ist ein jeder nur ein kleiner Mensch im großen Universum, den Launen der Natur nicht im geringsten gewachsen. Ich fühlte mich an die Thesen meines Lieblingsphilosophen Hans Blumenberg erinnert, der in seinem umfangreichen Lebenswerk die absolute Überlegenheit der Welt und die korrespondierende Hilflosigkeit des Menschen immer wieder in ihren unterschiedlichsten Facetten herausgearbeitet hat.

"Gentleman über Bord" ist eine sehr handlungsarme Geschichte. Nach dem unglückseligen Fehltritt des Gentlemans lesen wir ausführlich über Standishs Gedanken und Emotionen. Trotz dieser aussichtslosen Situation ist Standish zunächst darauf bedacht, um jeden Preis eine gute Figur zu machen. Für einen Gentleman scheint es nicht schicklich lautstark nach "Hilfe" zu rufen. Also unterlässt er es. Das hat schon eine gewisse Komik. Doch zu ernst ist die Situation, das Lachen bleibt einem im Halse stecken. Dennoch folgt man fasziniert Standishs Gedanken, wie sie hin und her fließen und zwischen Optimismus und zunehmender Verzweiflung und Hilflosigkeit oszillieren. Den rettenden Frachter immer im Blick, arrangiert sich der Gentleman lange mit der Situation, muss sich bei allem Stolz auf sein Durchhaltevermögen nach und nach klar machen, dass er in dieser Lage nicht uneingeschränkt am Erscheinungsbild eines Gentlemans festhalten kann. Vielleicht für ihn die schmerzhafteste Erfahrung seines Unglücks. Selbst ein Gentleman muss sich hier letztlich der Naturgewalt unterordnen.

Aber wird er denn nicht auf dem Frachter, auf dem er unterwegs war, vermisst? Nun ja. Es sind wenige Menschen an Bord. Davon findet ein jeder Gründe, warum er nicht aktiv geworden ist, als die Berührungspunkte zu Standish wegfielen. Insofern haben wir hier ein Miniaturportrait der Gesellschaft, die gerne wegschaut. Als der Vorfall dem Kapitän schließlich gemeldet wird, kehrt der Frachter um - nach 13 Stunden. 13 Stunden, in denen der Gentleman Standish einsam im Ozean getrieben ist, über sein Leben, Gott und die Welt und schließlich auch den Tod philosophiert hat...

Ich habe "Gentleman über Bord" nahezu atemlos gelesen. Etwas Vergleichbares in der großen, breiten Literaturwelt ist mir noch nicht untergekommen. Was für eine Kunst, aus einem kleinen winzigen Fehltritt eine Geschichte zu komponieren, die über die ganz großen Fragen der Menschheit nachdenkt! Und immer schafft es Lewis, die Balance zwischen tragischen und komischen Elementen zu halten. Ich denke, das ist das Besondere des Werkes. Die Situation, in die Standish hineingerät, ist hochtragisch. Aber was er daraus macht ist gleichzeitig Unterhaltungsliteratur vom Allerfeinsten. Und das ist mitnichten abwertend gemeint. Im Gegenteil: Noch nie hat mich ein Roman, in dem eine Unglückssituation im Mittelpunkt steht, gleichzeitig auch amüsiert. Lewis gelingt dies, während ich gleichzeitig die Einladung angenommen habe, darüber nachzudenken, wie ich selbst möglicherweise in einer vergleichbaren Situation empfunden hätte.

Ich bin auch Wochen später noch restlos begeistert und habe eine neue kostbare Perle im literarischen Universum entdeckt, für die ich nicht müde werde, zu werben: Lest unbedingt dieses Buch! "Gentleman über Bord" hat wirklich großes Potential zu einem neuen persönlichen all time favorit.

von: Tove Jansson
von: Un-su Kim
von: Tim Pieper
 
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