Rezension (5/5*) zu Gentleman über Bord von Herbert Clyde Lewis

Anjuta

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8. Januar 2016
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Mit Anstand über Bord und untergehen

Der kleine Roman “Gentleman über Bord“ von Herbert Clyde Lewis führt uns auf ein Schiff, dass neben Fracht einige Passagiere an Bord hat und sie in Richtung südliches Amerika bringen will. Diese Passagiere bilden einen interessanten Durchschnitt durch die höhere US-amerikanische Gesellschaft des frühen 20. Jahrhunderts, einem Zeitpunkt, zudem auch dieser Roman zuerst erschienen ist. Im mare-Verlag bekommt dieser Roman nun ein neues Leben in deutscher Übersetzung von Klaus Bonn.
Einer der Passagiere ist der im Titel genannte Gentleman, der durch einen nur kleinen Fehltritt über Bord geht und mitten im Pazifik landet. Dort treibt er und bleibt in seiner immer aussichtsloseren Lage trotz allem der Gentleman, der er zeitlebens war und sein wollte, er bewahrt Ruhe, seine „stiff upper lip“ und stoische Ruhe und Haltung.
„Das Anstandsgefühl eines Mannes war genauso wichtig wie sein Leben.“
Währenddessen läuft auf dem Frachter für ihn alles in eine falsche und fatale Richtung. Sein Fehlen wird immer wieder wegerklärt und in seiner Tragweite und Dramatik ungemein lange nicht erkannt. So wird des Gentlemans Hoffnung auf Rückkehr des Schiffes und sein darauffolgendes Auffinden immer mehr haltlos und nichtig. Beide winzige Punkte im Pazifischen Ozean entfernen sich immer weiter voneinander und Rettung wird immer unwahrscheinlicher. So treibt der Leser zeitweise mit dem Gentleman in den Fluten des Ozeans und zeitweise beobachtet er an Bord die hauptsächlich irrationalen und zeitweise verantwortungslosen Handlungen des Bordpersonals. Er kann dabei auch eintauchen in die sehr sorgfältig ausgewählte Figurengruppe, die die Passagierliste dieses Frachters bildet. Die sorgfältige Auswahl führt dazu, dass einer spezifischen Gesellschaftsschicht der USA in den frühen 1920er Jahren intensiv nachgespürt werden kann.
Währenddessen befindet sich der Gentleman in einer existentiellen Situation zwischen Leben und Tod, zwischen Luft und Wasser in einer fassungslosen Einsamkeit und Abgeschiedenheit von allen denkbaren Rettungsmöglichkeiten. Ein Mann und das Meer – auf diese einfache Formel kann man diese Situation zusammenfassen, wie sie rein, klar und stilecht von Lewis geschildert wird.
Mich erinnerte dieser Roman in seiner so sehr eindrücklich geschilderten existentiellen Situation an Hemingways „Der alte Mann und das Meer“ – ebenfalls ein Werk in einer Miniaturform mit großen existentiellen Situationen beim Kampf zwischen Mensch und Natur, und er hat mich wirklich ähnlich stark beeindruckt. Dieser kurze Roman ist eine wirkliche literarische Perle, die viele Leser verdient hat.