Rezension (5/5*) zu Gentleman über Bord von Herbert Clyde Lewis

Renie

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19. Mai 2014
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Buchinformationen und Rezensionen zu Gentleman über Bord von Herbert Clyde Lewis
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Irgendwo im Pazifik

Irgendwo im Pazifik, zwischen Hawaii und Panama ist es passiert: ein Gentleman ging über Bord. Und wie es besagtem Gentleman mit dem klangvollen Namen Henry Preston Standish dabei erging, und welchen Verlauf sein Schicksal nahm, erzählt der Roman „Gentleman über Bord" von Herbert Clyde Lewis, erstmalig veröffentlicht im Jahre 1937.
Mr. Standish wurde das Gentleman-Sein in die Wiege gelegt und mit einer angemessenen Erziehung gefestigt. Mittlerweile ist er 35, Börsenmakler in New York, gut situiert, verheiratet, mit zwei Kindern. Sein Leben verlief bisher solide, erschreckend solide, so dass ihn der Gedanke an das, was da noch kommen bzw. eher nicht kommen könnte, in eine seelische Krise stürzt. Er entschließt sich darauf hin zu einer Auszeit und sucht sein Seelenheil auf einer Reise, die ihn kreuz und quer, über und entlang des amerikanischen Kontinents führt.
Eine seiner letzten Etappen ist die Fahrt auf einem Frachter, die ihn von Hawaii nach Panama führen soll. Und mitten im Pazifik passiert es: er geht über Bord; der Faux Pas ist zwar peinlich, dennoch, bewahrt Mr. Standish seine Haltung, denn einmal Gentleman immer Gentleman - egal in welcher Situation. Sein Verschwinden bleibt zunächst unbemerkt, keiner der acht Mitreisenden oder der Schiffsbesatzung scheint ihn zu vermissen. Das Leben an Bord des Frachters geht auch ohne Mr. Standish weiter.
So dümpelt der Gentleman im Pazifik vor sich hin, allein, kein Schiff weit und breit, nur er in dem ruhigen spiegelglatten Gewässer. Zunächst behält seine Zuversicht noch Oberwasser, doch je länger er auf seine Rettung wartet, um so mehr lässt er den Gedanken an die Möglichkeit seines bevorstehenden Todes zu. Mit seinem Optimismus schwindet auch nach und nach seine Gentleman Attitüde und seine Gedanken nehmen philosophische Ausmaße an.
Dieser Stimmungswandel überträgt sich auf den Leser. Anfangs liest man den Roman mit einer Mischung aus Amüsement, Fassungslosigkeit und Unbehagen. Lewis schafft mit viel Wortwitz und Ironie eine sehr skurrile Situation, in der sich der Gentleman dem Leser gegenüber der Lächerlichkeit preisgibt. Denn seine Angst, die Würde zu verlieren ist größer ist als die Angst, sein Leben zu verlieren.
Doch je mehr man sich mit der Vorstellung beschäftigt, an Mr. Standishes Stelle zu sein, also als unbedeutendes Menschlein dieser gigantischen Naturgewalt hilf- und hoffnungslos ausgeliefert zu sein, umso unbequemer wird die Lektüre. So gerät man zwangsläufig ins Philosophieren, zumal die humoristische Erzählweise von Lewis in Ernsthaftigkeit umschwenkt. Diese Ernsthaftigkeit überträgt sich auf den Leser und man ertappt sich dabei, nach den unterschiedlichsten Denkansätzen zu suchen, die sich auf die menschliche Existenz und ihre Endlichkeit übertragen lassen.
Lewis hat mit „Gentleman über Bord" einen zeitlosen Roman geschrieben, dessen existenzialistische Denkanstöße auf jede Epoche unserer Zeit übertragbar sind. Dazu bedurfte es keines philosophischen Mammutwerkes. Stattdessen genügten Lewis 176 Seiten voller Wortwitz und einem tragischen Helden inmitten von Naturgewalten, und schon hatte er ein Kleinod der Weltliteratur geschaffen. Großartig!

© Renie


von: Ulla-Lena Lundberg
von: Lidia Ravera
von: Giosuè Calaciura
 
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