Rezension (5/5*) zu Gentleman über Bord von Herbert Clyde Lewis

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Gentleman über Bord von Herbert Clyde Lewis
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Zwischen Bangen und Hoffen in Hoher See

Der erfolgreiche 35-jährige New Yorker Börsenmakler Henry Preston Standish braucht eine Auszeit, heutzutage würde man wohl von einem Burnout oder einer Midlife-Crisis sprechen. Seine Frau und die beiden kleinen Kinder zeigen Verständnis, so dass Standish auf Erholungsreise gehen kann. Er ist bereits einige Wochen unterwegs, als ihn ein Zufall auf den Frachter „Arabella“ spült, der die wenig befahrene Route von Hawaii nach Panama fährt. Es sind nur wenige Passagiere an Bord, die der besseren Gesellschaft angehören und uns im Zuge des Romans vorgestellt werden. Standish genießt die Überfahrt außerordentlich. Er hat Freude an den Sonnenauf- und -untergängen, bewundert den spiegelglatten Ozean oder den leuchtenden Sternenhimmel. Wir Leser dürfen diese Naturschönheiten gleichfalls intensiv genießen. Ansonsten ist Müßiggang angesagt. Es gibt einen Pool, eine Bibliothek, gutes Essen sowie Möglichkeiten, sich zu unterhalten.

Der dreizehnte Tag ist der Tag, an dem Standish buchstäblich aus seinem doch recht durchschnittlichen Leben fällt: Er rutscht am frühen Morgen unglücklich auf einem Ölfleck aus und stürzt in den Pazifik. Niemand bemerkt das Unglück, dummerweise ist Standish so fest in seiner Standesehre verankert, dass er weder undiszipliniert um Hilfe ruft, noch sonst auf sich aufmerksam macht. Stattdessen vertraut er darauf, dass jemand seine Abwesenheit an Bord recht bald bemerkt, so dass die „Arabella“ umkehren und ihn wieder aufsammeln wird.

Dieses überaus spannende wie skurrile Setting hat der Autor wunderbar ausgearbeitet. Auf der einen Seite partizipieren wir an den Gedanken und Erinnerungen des Gestürzten, der seine Zuversicht lange nicht verliert, und sich sogar ausmalt, wie verschiedene Zuhörer später auf die Erzählungen über sein wahnwitziges Abenteuer reagieren werden. (Diese Fantasiegespräche sind durchaus tragikomisch – das Lachen blieb mir allerdings im Hals stecken.)

Es dauert eine ganze Zeit, bis Standish der Ernst der Lage klar wird. Auf der anderen Seite dürfen wir parallel dazu die kleine Reisegesellschaft an Bord weiter beobachten. Aus den verschiedensten Gründen meldet nämlich niemand zeitnah das Fehlen Standishs, so dass wertvolle Zeit verstreicht. Als Leser bangt man und evaluiert die Wahrscheinlichkeiten einer Rettung. Standish selbst bleibt lange optimistisch. Er ist ein guter Schwimmer, das Salzwasser trägt ihn zudem mit wenig Anstrengung.

„Standish hielt Ausschau nach der „Arabella“ in der Ferne. Sie war nicht größer als ein Kanu. Er schaute zum Himmel. Der war so groß wie der Mut eines Mannes, und das Meer dehnte sich weiter als seine Hoffnungen.“ (S. 61) Es sind Sätze wie dieser, die den Roman wirklich zu einem Kleinod machen. Lewis verfügt über einen wunderbaren Schreibstil, der einem die sich im Zeitablauf verändernden Emotionen des Protagonisten zwischen Wut, Hoffnung und Schicksalsergebenheit sehr nahe bringen. Man empfindet regelrecht mit ihm. Der einsame Mann im Pazifik kontrastiert maximal zum sorglosen Alltag der Passagiere an Bord. Dieser Gegensatz ist faszinierend und zeigt anschaulich die Dekadenz und Oberflächlichkeit einer privilegierten gesellschaftlichen Klasse, deren Charakterzeichnung ebenso sorgfältig gelungen ist wie die des Protagonisten.

Für mich ist dieser kleine Roman große Literatur. Er greift zeitlose Themen auf und beschäftigt sich mit den existentiellen Fragen des Lebens. Nach dem Ende der Lektüre bleibt viel Raum für eigene Gedanken. Die Sprache passt wunderbar zur Entstehungszeit (Erstveröffentlichung 1937), die Übersetzung von Klaus Bonn lässt keine Wünsche offen und das Nachwort von Jochen Schimmang ordnet das Werk ein und gibt einen Interpretationsansatz. Die optisch und haptisch anspruchsvolle Hardcover Ausgabe im Schuber lässt jedes bibliophile Herz höher schlagen. Der Roman ist auch als Geschenk sehr zu empfehlen.

Große Lese-Empfehlung für alle Freunde besonderer Geschichten!

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