Rezension (5/5*) zu Gehen von Tomas Espedal

tinderness

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25. November 2021
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Wien und Wil
mostindien.org
Trunkene Wanderungen

Espedal wird immer wieder als genialer Grenzgänger zwischen Autobiographie und Roman gefeiert. In der Radikalität seiner Ichbezogenheit entzieht er sich entschieden den zugemuteten Klischees. Schon der Untertitel seines Buches reisst das Spannungsfeld an, in dem sich der Autor bewegt: Gehen oder die Kunst ein wildes, poetisches Leben zu führen. Das nimmt wohl eine andere Richtung als Glaubensbekenntnisse schreibender Jakobsweg-Enthusiasten. In seinem Buch wird sich Espedal nämlich immer wieder an einer Trias von Existenz reiben, die im Wesentlichen die Schreibbewegung bestimmt: (1) Trinken als Stimulans; (2) Gehen als meditative Technik (3) die intellektuelle Auseinandersetzung mit anderen Autoren, deren Spuren wandernd erkundet werden. Von Gott ist freilich nie die Rede.

Der Ich-Erzähler Espedals ist durchaus eine gefährdete Existenz. Alkohol ist sein essentieller Lebens- und Wanderbegleiter, seine Wanderungen sind weit entfernt vom Lifestyle – Wahn der Outdoorbewegung. Alkohol ist dem Wandernden wichtigstes Nahrungsmittelbestandteil. Er wärmt, inspiriert, befeuert Gespräche und bringt den literarischen Genius in Gang. Selbst Wein- und Schnapsflaschen werden auf die Streifzüge mitgenommen, ihrem Gewicht zum Trotz. Und selbst dann, wenn der Rausch den aufrechten Gang verhindert, treibt es den Autor vorwärts: kriechend, wenn es sein muss, unter Tische, in verschüttetem Fusel auf den Böden einsamer Gasthöfe. Erleichtert nehmen wir am Beginn seines Buches wahr, dass der Romanheld seine Familie verlässt und sich dem Gehen ergibt, das macht, was allein er zustandebringt: radikal für sich allein zuständig zu sein. Weg daher mit dem egozentrischen Taugenichts aus der Stube ins Neben-Zivilisatorische!

„Welchen Beruf sollte man denn ergreifen?“, das ist die Frage, die sich die verkrachte Existenz immer wieder stellt. Was kann man noch neben dem Schreiben und Trinken und Nachdenken? Die Antwort darauf ist eine durchaus literarische: "Ausser Schreiben und Denken magst du es, zu gehen. Daraus müsse sich doch ein Beruf machen lassen: ein Vagabund. Herumtreiber. Landstreicher, Wandersmann. (…) Ein Beruf. Endlich. Mit Bruce Chatwin ist das Gehen zu einer Arbeit geworden, denke ich; es erfordert keine Bewerbung, keine Zeugnisse, man macht sich einfach auf den Weg, zur Tür hinaus, jederzeit, geradeaus, in irgendeine Richtung, die offene Strasse hinab, auf zwei langsamen Füssen" (t.e.: g)

Das Wandern macht trunken, aber nicht berauscht von Natur ist der Erzähler, sondern trunken nach der Gier nach Erlebnis, besoffen vom Leben und angetrieben von literarischen Vorbildern, deren Spuren er verfolgt. Weil es um ein wildes und poetisches Leben geht, das es zu finden gilt, entfernt er sich sehr weit vom Topos des Wanderns oder der Pilgerfahrt. Er GEHT um seiner Selbst willen und letztendlich: um seinen neuen Beruf besser kennenzulernen.

Schon seine Kleidung ist ein Kontrapunkt zu den aktuellen Bekleidungsritualen der Wanderbewegung. Nicht funktional, nicht sportlich, nicht adrett darf es sein, was der Erzähler auf seinen Reisen durch Norwegen, Deutschland, der Türkei und Anderswo trägt, sehr wohl aber ist sie sorgfältig zusammengestellt, um das Aussenseitertum des Trägers zu unterstreichen: "Ich habe mir einen neuen alten Anzug gekauft, einen Zigeuneranzug mit Bügelfalte an den Hosenbeinen, silberblauen Streifen im blauen Stoff, neue Doc Martens-Stiefel, eine Sonnenbrille sowie Verbandszeug und Pflaster." (t.e.: g)

Und so sucht er sie auf, seine literarischen Kollegen: Rousseau den Naturromantiker, Voltaire den Vernünftigen, Heidegger den Mann mit der Nähe zum Nationalsozialismus, Thoreau, den Nachdenklichen, Chatwin den Berufsgeher, und viele andere mehr, die bei weitem nicht so bekannt sind. Sie alle sind Wesensverwandte, haben sie sich doch ausgiebig mit dem Gehen als Lebensentwurf beschäftigt.