Rezension (5/5*) zu Fünf Leben: Roman von Jenny Tinghui Zhang

petraellen

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11. Oktober 2020
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Heimat und Identität

Autorin
Jenny Tinghui Zhang

Inhalt
Der Roman „Fünf Leben“ beruht auf historischen Begebenheiten in den 1880er-Jahren in China und Amerika.

Die junge chinesische Daiyu lebt mit ihren Eltern und ihrer Großmutter auf dem Land. An dem Tag, als ihre Eltern verhaftet wurden und verschwanden, verändert sich ihr Leben. Ihre Großmutter organisiert für Daiyu eine Mitfahrgelegenheit nach Zhifu, der Stadt, aus der ihre Familie stammt.

„Dies ist die Geschichte eines Mädchens, das Zhifu hinten auf einem Wagen erreichte.“ (S. 29)

Daiyu schlägt sich dort alleine durch, sie ändert ihr Aussehen in eine männliche Gestalt in der Hoffnung, Arbeit zu finden, aber ohne Erfolg. Nach einer langen, hoffnungslosen Zeit findet sie Zuflucht in einer Kalligraphieschule, als Junge getarnt. Sie ist dort zufrieden. Die Kalligraphieschule ist jedoch nur eine Station auf einer langen Reise. In Zhifu wird sie entführt und in den Westen Amerikas verschleppt, wird dort von Menschenhändlern verkauft, um in einem Bordell zu arbeiten. Sie kann flüchten und findet Unterschlupf in einem kleinen Laden, versteckt in den Bergen in Idaho.

Doch dann beginnt eine Welle von Rassismus, die in antichinesischer Gewalt mündet. Chinesische Einwanderer sterben, werden gelyncht, verwundet und fliehen aus Angst aus ihren Häusern.

Daiyu bleibt stark, immer in der Hoffnung, ihre Großmutter und ihre Eltern zu finden.

Ihr Zuhause ist nicht Amerika.

Sprache und Stil

„Auf der Liste von Dingen, die ich verloren habe, füge ich mich selbst hinzu.“ (S. 341)

Jenny Tinghui Zhang erzählt in ihrem Debütroman „Fünf Leben“ eine mitreißende Geschichte im Rahmen der historischen Realität des „Chinesischen Exclusions Acts“.

Jenny Tinghui Zhang zeigt mit ihrer Protagonistin Daiyu eindringlich und eindrucksvoll die dunkle Seite der amerikanischen und auch chinesischen Geschichte auf. Sie versucht diese Zeit aufzuarbeiten, publik zu machen und die Welt an den Hass zu erinnern, der niemals in Vergessenheit geraten soll.

Ein weiteres Thema handelt von Frauen in der traditionellen chinesischen Gesellschaft. Daiyus Mutter lehrt ihr, ihre Hände zu gebrauchen und von ihrem Vater lernt sie ihren Verstand einzusetzen. Sie hat Glück, dass ihre Eltern nicht der Tradition folgen, ihr die Füße zu brechen, damit sie mit kleinen Füßen heranwächst, um eine perfekte Ehefrau oder Konkubine für einen reichen Stadtmann zu werden.

„Die ehrgeizigsten Familien in unserem Dorf brechen ihren Töchtern mit fünf die Füße. Es ist das beste Alter zum Füßebrechen. Mit fünf sind die Knochen noch nicht allzu verhärtet und das Mädchen ist alt genug, den Schmerz auszuhalten.“ (S. 22)

Daiyu verwandelt sich nach dem Verschwinden ihrer Eltern in den Straßenjungen Feng. Feng sehnt sich zurück nach der familiären Geborgenheit. Doch Feng wird am helllichten Tag auf offener Straße entführt und in einer Kohlentonne nach San Francisco verschleppt. Hier muss sie schmerzlich erfahren, dass ihre Tarnung nutzlos ist. Sie ist kein Junge, sondern ein Mädchen, das an Männer verkauft werden kann. Auf ihrer weiteren Odyssee wird sie wieder zu einem Jungen. Als Jacob Li findet sie für eine Weile Ruhe und zu sich selbst.

Stück für Stück legt sie ihre Maske ab, bis sie es schafft, sich selbst beim Namen zu nennen und endlich eine eigenständige, selbstbewusste Persönlichkeit wird. Sie ist zu einem Ai geworden. Ai ist das chinesische Zeichen für Liebe und wird genau wie im Englischen I - Ich ausgesprochen. Daiyu verkörpert das Selbstlose und findet zur selbstbestimmten Frau.

Doch dem Gesetz ist es egal, ob Mann oder Frau, denn schon bald ist die Einreise mit dem „Chinese Exclusion Act“ auch Männern untersagt. Das Gesetz macht keine Unterschiede, es verfolgt einen chinesischen Mann oder eine chinesische Frau.

Der Hass kann Menschen töten. Die Gegensätze, die Liebe und das Selbst, das Ich in Ai, sind manchmal schwer miteinander vereinbar.

Der Roman besticht durch eine elegante Erzählweise und einen geschickten Aufbau der Protagonistin. Die Ich-Form führt dicht an das Geschehen heran, und trotz der fiktionalen Aspekte wird der Blick auf aktuelle und reale Ereignisse nicht verbaut.

Fazit
Jenny Tinghui Zhang nimmt den/die Leser*in mit in die Vergangenheit. Die Odyssee auf der Suche nach der eigenen Identität führt durch unterschiedliche Kultur- und Sprachräume. „Heimat“ und „Identität“ stellen die Fragen: Was ist mein Zuhause und wer bin ich? Daiyu muss wie auf einem Seil die Balance halten, um nicht unterzugehen.

„In der Kalligraphie wie im Leben wird nicht retuschiert, sagte Meister Wang oft. Wir müssen akzeptieren, dass das Geschehene nicht zu ändern ist.“ (S. 64)






von: Charles Lewinsky
von: Joachim B. Schmidt
von: Alexandra Stahl