Rezension (5/5*) zu Empusion von Olga Tokarczuk

Federfee

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Buchinformationen und Rezensionen zu Empusion von Olga Tokarczuk
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Ein junger Mann findet seinen Weg – ein literarisches Meisterwerk

In jeglicher Hinsicht literarisches Meisterwerk mit Anspielungen an Thomas Manns 'Zauberberg', aber doch ganz eigenständig und leichter zu lesen

Gleich vorweg – weil dieser Roman in Rezensionen und Besprechungen eng mit dem 'Zauberberg' von Thomas Mann verknüpft wird: man braucht diesen nicht zu kennen und muss ihn auch nicht vorher oder nachher lesen. Olga Tokarczuks Buch ist eigenständig, auch wenn es etliche Parallelen und Ähnlichkeiten gibt.

Eine filmreife Szene: ein Dampfzug kommt an, Niederschlesien 1913, der Rauch verzieht sich, jemand steigt aus und wir sehen zuerst nur den Schuh, dann noch einen, eine Gestalt, die immer deutlicher wird: Person – Mensch – ein junger Mann: Mieczysław Wojnicz, Student der Canalbautechnik aus Lemberg, angereist, um sein Lungenleiden im Luftkurort Görbersdorf auszukurieren. Er wird in einem Gästehaus für Herren logieren (solche altmodischen Wörter sind etliche eingestreut) und Anwendungen in der Kurklinik über sich ergehen lassen müssen.

Die Erzählerinnen: ein rätselhaftes WIR, 'weibliche Wesenheiten', die die Menschen beobachten, die geheimnisvoll sind und bleiben und unter denen sich gerne jeder etwas anderes vorstellen darf: Gedanken, Geister, Naturwesen oder was auch immer.

Im Zauberberg gibt es tiefschürfende Gespräche zwischen einigen Kurgästen; die Themen werden aber nur angerissen, nicht weitergedacht und dem Leser mag es wie Wojnicz gehen: nicht alles ist verständlich - Phrasen, Worthülsen - aber auch Sätze, wo man zustimmend nicken kann. Das trifft allerdings ganz und gar nicht auf DAS Thema zu, auf das die Herren immer wieder zurückkommen: Frauen. Die zahlreichen misogynen (frauenfeindlichen) Äußerungen fand ich zuerst so dumm und abscheulich, dass ich sie am liebsten gar nicht gelesen hätte. Aber: man sollte den Hintergrund kennen. Was Tokarczuk diesen überheblichen Macho-Männern in den Mund legt (nicht zitiert, sondern paraphrasiert), sind alles Meinungen, die tatsächlich geäußert wurden und zwar von bekannten Männern. Es sind so illustre Namen dabei wie Darwin und Cato der Ältere, aber auch Sartre, Kerouac, Wedekind u.v.m.

Und worum geht es nun in diesem Roman? Am liebsten würde ich jetzt mit einem modernen Begriff herausplatzen, aber das darf ich nicht. Vorsichtig ausgedrückt: darum, dass der junge Wojnicz sich selber findet – meiner Meinung nach das Hauptthema. Das mag abgedroschen klingen, aber ich will es nicht näher erläutern, weil ich denen, die den Roman zum ersten Mal lesen, eine kleine Überraschung nicht verderben – also nicht spoilern – will. Zum Ende kommt sogar etwas Spannung in diesem ansonsten handlungsarmen Buch auf, aber auch hier darf genauso wenig verraten werden wie über das Ende. Wer allerdings von Anfang an langsam und aufmerksam liest, wird viele Sätze finden, die zu denken geben und Vermutungen aufkommen lassen, die in Richtung Hauptthema gehen. Meine Vermutung ist, dass Tokarczuk nichts dem Zufall überlassen hat und alles bedeutungsvoll durchkonstruiert hat – eigentlich eher ein Merkmal von Erzählungen.

Über der ganzen Geschichte liegt von Anfang an etwas Unheimliches, Unheilvolles, Rätselhaftes, Mörderisches. In Häppchen erfahren wir viel über Kindheit und Jugend von Wojnicz, geschickt in die Geschichte eingewebt, ebenso wie Diskussionen in der abendlichen Herrenrunde mit viel Likör (Symposion) über die unterschiedlichsten Themen wie 'Nationen', 'Krieg', 'Kunst', 'das Wesen der Frauen' und immer wieder sexuelle Anspielungen.

Mir hat das Buch rundherum gut gefallen, weil es alles enthält, was ich so mag:

- zitierfähige Sätze zum Genießen und Herausschreiben,
'… dieser gewaltige Raum, den jeder Mensch in sich trägt und der gefüllt ist mit all dem unsichtbaren Gepäck, das jeder ein Leben lang mit sich schleppt ohne zu wissen, warum. Das eigene Ich.' (Kampa 52)

- bild- und sinnenhafte Beschreibungen, z.B. von der ekligen Blutsuppe (Schwarzsauer), ein Gericht, das es tatsächlich gibt – die typischen Gerüche der einzelnen Herren oder ihr charakteristisches Husten, die 'Hustensymphonie' des Nachts. Man meint, alles zu schmecken, zu riechen, zu hören.

Nicht zuletzt hat mir gefallen, dass es körnig verschwommene Schwarz-Weiß-Fotos vom Ort gibt, der heute polnisch ist und Sokołowsko heißt. Und auch das Sanatorium in neogotischer Backstein-Architektur gibt es. Heute ist es ein wenig verfallen, wird aber wohl gerade restauriert, wie man hier im Polen-Journal sehen kann:

Und wie ist es mit dem Cover? Auf den ersten Blick fand ich es scheußlich: das Rosa, die Adern, aber nach dem Lesen wird man auch hier feststellen: wohlüberlegt gestaltet, gut ausgewählt, das Bild vom 'Glove' der surrealistischen Künstlerin Meret Oppenheim, zu sehen im MoMa.

Der Titel: Empusion ist eine Zusammensetzung aus antiken Begriffen: Symposion = Trinkgelage, Empuse: eine weibliche Schreckgestalt.

Fazit

Dieses Buch hat mir eine große Lesefreude bereitet und ist für mich schon jetzt ein Jahreshighlight. Es ist große Literatur und doch oberflächlich leichter zu lesen als der 'Zauberberg' von Thomas Mann, mit dem es wegen einiger Parallelen und Ähnlichkeiten in Verbindung gebracht wird und weil Olga Tokarczuk wohl bewusst Bezug darauf genommen hat.

Wer Interesse an guter, anspruchsvoller Literatur hat, dem kann ich es sehr empfehlen.

von: Michael Thumann
von: Marc Elsberg
von: Yael Nachshon Levin
 
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Literaturhexle

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Meine Vermutung ist, dass Tokarczuk nichts dem Zufall überlassen hat und alles bedeutungsvoll durchkonstruiert hat – eigentlich eher ein Merkmal von Erzählungen.
Och, so eng lege ich das nicht aus. Gute Autoren spielen mit den Handlungsfäden und bringen sie gekonnt komponiert zum Ende. Auch die Romanautor/innen :joy
Sie haben eben mehr Zeit dafür.

Ich wusste, dass ich deine Rezension lesen kann, auch wenn ich noch mittendrin im Buch stecke. Nun bin ich noch neugieriger darauf, wie es weitergeht!
 

Federfee

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Och, so eng lege ich das nicht aus. Gute Autoren spielen mit den Handlungsfäden und bringen sie gekonnt komponiert zum Ende. Auch die Romanautor/innen :joy
Sie haben eben mehr Zeit dafür.
Eigentlich ja, aber hier sehe ich das anders. Es sind so viele Sätze und Symbole, das kann alles kein Zufall oder Intuition sein. Zum Beispiel kommt an einer Stelle eine große Heuschrecke vor, eine Art Gottesanbeterin, auch 'Empusa' genannt. Das hat sich die Olga alles gut überlegt.
Ich wusste, dass ich deine Rezension lesen kann, auch wenn ich noch mittendrin im Buch stecke. Nun bin ich noch neugieriger darauf, wie es weitergeht!
Ich habe mir viel Mühe gegeben, nichts zu verraten. Ich hatte ja selber Freude daran, überrascht zu werden und das soll man keiner Erstleserin /keinem ... nehmen.
 

Literaturhexle

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Das hat sich die Olga alles gut überlegt.
Unbedingt!
Aber große Symbolik findest du bei TM auch. An den lehnt sie sich nichtsdestotrotz an. Sie hat etwas zu sagen. Sie schreibt nicht 08/15.

Es gibt aber auch moderne Autoren, die es verstehen, mit dem Leser zu spielen und ihren Roman perfekt zu strukturieren. Ich kann mich da an tolle LR erinnern (gemeinsam sieht man mehr!) zu "Die geheimste Erinnerung des Menschen", "Kairos", "Dunkelblum", "Nachleben", "Treue" oder... Ganz zu schweigen von den kurzen, knackigen Büchern.

Ich würde Erzählung und Roman nicht so streng trennen. Literarische Romane verwenden Symbole und versteckte Ebenen/Inhalte ebenso. Nur dass vielleicht nicht in JEDER Szene ein doppelter Boden versteckt ist.
 
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Aber große Symbolik findest du bei TM auch.
Ich hoffe, dass ich sie entdecke, wenn ich den 'Zauberberg' irgendwann nochmal lese.
Ich kann mich da an tolle LR erinnern (gemeinsam sieht man mehr!) zu "Die geheimste Erinnerung des Menschen", "Kairos", "Dunkelblum", "Nachleben", "Treue" oder... Ganz zu schweigen von den kurzen, knackigen Büchern.
Da habe ich ja noch einiges nachzuholen bzw. nachzulesen. Ich weiß nur nicht, wann ich das einbauen kann. Das Manner-Buch aus dem Guggolz-Verlag wartet ja auch schon so lange auf mich und etliche andere, auch wenn mein SuB klein ist.
Ich würde Erzählung und Roman nicht so streng trennen. Literarische Romane verwenden Symbole und versteckte Ebenen/Inhalte ebenso. Nur dass vielleicht nicht in JEDER Szene ein doppelter Boden versteckt ist.
Letztlich sind alles nur 'künstliche' Einteilungen. Erzählungen sind kurz, aber sonst verwenden sie die gleichen Mittel, denke ich. Nur lehren alle Fachleute (Saunders, Foster), dass Erzählungen wegen ihrer Kürze strukturierter und geplanter sind. So ganz geglaubt habe ich das nicht, aber ich bin aufmerksamer geworden. Vielleicht stimmt es ja.
 
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Auf meine nicht. Der Heuschreckenhinweis genügt mir. Ich las auch nie die Käfererzählung vom Franzl.
Aber liebe Wanda, du bist doch ein großes Mädchen und wirst keine Angst vor kleinen Tieren haben. Ich verspreche dir, sie beißt nicht und ist auch ganz schnell wieder weg. Sie springt auch nicht aus den Seiten. - Den Käfer-Franzl habe ich gelesen, aber er tat mir nur Leid, wie er so da lag, auf dem Rücken, der Arme. - Aber lies es lieber nicht. Die Suppe ist schrecklicher als jeder Käfer oder eine Empuse.