Neil, gescheiterter Schauspieler, Vater und Ehemann, besucht an der Abenduni eine Vorlesung zur Kultur und Zivilisation und ist fasziniert von der stoischen und anspruchsvollen Professorin Elizabeth Finch. Er hat zwar Affären und Liebeleien, doch prägt das Ringen um ihre Anerkennung sein Leben. Auch nach Beendigung des Studiums bleiben die beiden in Kontakt. Als sie stirbt, erbt Neil ihre Bibliothek und Aufzeichnungen - und stürzt sich in ein Studium Julian Apostatas, der für Elizabeth Finch ein Schlüssel zur Bedeutung von Geschichte an sich war: Der römische Kaiser wollte im 4. Jahrhundert das Christentum rückgängig machen. Wer war Julian Apostata? Und was wäre passiert, wenn er nicht so jung gestorben wäre? Der Schlüssel zur Gegenwart liegt nicht selten in der Verhangenheit, das zeigt dieser kenntnisreiche Roman auf unnachahmliche Weise.
Das Buch ist eine intelligente Hommage an die Philosophie, ein Ausflug in die Geschichte, eine Einladung, selbst zu denken. Kaufen
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Wer Julian Barnes kennt und schätzt, weiß, dass er es seinen Lesern nicht leicht macht, dass es immer noch eine weitere Ebene hinter dem Offensichtlichen zu entdecken gibt und dass auch eine zweite Lektüre sehr lohnend sein kann. Mit „Elizabeth Finch“ beweist der Altmeister das einmal mehr.
Man hat es hier nämlich nicht mit einem linear verlaufenden Romangeschehen zu tun. Das Buch ist in drei Teile aufgeteilt, deren mittlerer fast völlig aus der Reihe tanzt. Zum Inhalt: Erzähler Neil bezeichnet sich selbst als ‚König der unerledigten Projekte‘, war mehrmals verheiratet, hat drei Kinder aus drei Beziehungen und ist auch beruflich nicht fest etabliert. Als Mittdreißiger besucht er ein Seminar zum Thema ‚Kultur und Zivilisation‘ gehalten von Elizabeth Finch. Von Beginn an verfällt er der Professorin nicht nur im intellektuellen Sinn. „Ich kann mich nicht erinnern, was sie uns in dieser ersten Sitzung beibrachte. Aber aus unerklärlichen Gründen wusste ich, dass ich zum ersten Mal im Leben am richtigen Ort angekommen war.“ (S. 10)
Elizabeth Finch (EF) versucht, ihre Studenten zum eigenständigen Denken, zum Hinterfragen alter Muster, anzuregen. Sie provoziert, stellt streitbare Thesen auf und alles in große Zusammenhänge, die Neil faszinieren. Im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen, aus denen sie bedeutende Fragen der Menschheit ableitet, steht der römische Kaiser Julian Apostatata (der „Abtrünnige“), der während seiner spärlichen drei Jahre Regentschaft (von 360 bis 363 n.Chr.) versuchte, das Christentum zurückzudrängen, um den heidnischen Polytheismus wieder einzuführen. „Was wäre gewesen wenn…? Was können wir daraus lernen oder ableiten? Welche Bedeutung hat die Vergangenheit für die Gegenwart“, sind Fragen der Professorin, mit denen sie herausfordert und ihre Zuhörerschaft spaltet. Neil verehrt Elizabeth, saugt jedes ihrer Worte auf, während er für andere Vorgänge um sich herum kaum ein Auge hat.
Auch nach Beendigung des Seminars bleibt er mit EF in Kontakt, geht regelmäßig mit ihr Essen. Um Privates geht es dabei nie, sondern nur um intellektuellen Austausch. Der Mensch EF bleibt dadurch für Neil ein Kuriosum. Selbst über ihre schwere Krankheit erfährt er nichts und ist völlig überrascht, als er nach EFs Tod ihre Bibliothek sowie ihre kompletten Aufzeichnungen erbt.
Mit diesem Erbe wird sich Neil über Jahre auseinandersetzen. Er wird einen Essay über Julian Apostatas verfassen, weil er meint, dies der Verstorbenen schuldig zu sein. Er wird versuchen, sich der Person EF posthum zu nähern, um sie besser kennenzulernen. Dazu dienen ihm zusätzlich Gespräche mit ihrem Bruder Christopher sowie seinen ehemaligen Kommilitonen. Ich würde die ungleiche Freundschaft zwischen EF und Neil nie als Liebe im herkömmlichen Sinn bezeichnen, auch wenn sie Charakteristika derselben aufweist.
Wer nun meint, dass dieser Roman unendlich trocken oder intellektuell abgehoben daher kommt, ist auf dem Holzweg. Barnes versteht es, auch in philosophischen oder historischen Überlegungen ungeübte Leser mit auf seine Reise zu nehmen. Er schreibt so pointiert, elegant und flüssig, dass man ihm gerne auch durch unwägbares Gelände folgt. Sein Text lässt ständig Türen offen, nichts wird fixiert, der Leser wird direkt angesprochen und zum Mitdenken angeregt. Unterschwelliger (englischer?) Humor blitzt latent durch die Zeilen. Daneben gibt es eine Menge an literarischen Bezügen großer Meister, an Weisheiten und Bonmots, an denen EF ihre Gedankenspiele aufhängt. Man sollte nicht alles zu ernst nehmen. Wer sich schon zu Beginn der Lektüre in seinem Christenglauben verletzt sieht, wird mit dem Buch vermutlich nicht ganz glücklich werden.
Der Roman hat eine ungewöhnliche Struktur, er ist eher eine Spurensuche und hat keinen stringenten Handlungsbogen. Er setzt sich mit Julian Apostata auseinander, über den im Laufe der Jahrhunderte bedeutende Dichter und Denker eine Menge geschrieben haben. Er verherrlicht dessen Mythos aber in keiner Weise, er diskutiert das Für und Wider von religiösem oder politischem Fanatismus. Man muss kein konkretes Interesse für diesen alten Kaiser mitbringen, allein die differenzierten Überlegungen um ihn herum sind ungemein fesselnd. Barnes kann so etwas: Er glänzt mit seiner schlüssigen Herleitung, mit seiner Intellektualität, seiner Schreibkunst.
Nach Beendigung des Buches wird man um ein paar Erkenntnisse reicher sein. Man wird eine gehörige Portion Ironie des unzuverlässigen Ich-Erzählers wahrnehmen, der sein gesamtes Werk retrospektiv aufgebaut hat und uns, den Lesern, im Rückblick seine Geschichte um Julian und Elizabeth erzählt. Mit dem letzten Teil des Romans werden Parallelen zwischen den drei Protagonisten offenkundig, die zuvor vielleicht nicht ganz einleuchten. Man erkennt den Zusammenhang der drei Romanteile. Heldenverehrung wird ad absurdum geführt.
Mit Sicherheit sehe ich „Elizabeth Finch“ nicht als Barnes´ besten Roman an. Ein bisschen holpert es schon im Gebälk, wenn man sich mit den Hinterlassenschaften und Notizen EFs auseinandersetzen muss. Trotzdem fühlte ich mich gut unterhalten. Die Eloquenz eines Julian Barnes reißt so manches heraus, was ich bei einem anderen Schriftsteller vielleicht kritischer betrachten würde.
Ich betrachte den Roman als einen Appell zu Toleranz, zum genauen Hinsehen. Religionen haben wie viele andere Dinge auch weit mehr Seiten, als man auf den ersten Blick sieht. Es gibt nicht nur eine Wahrheit. Man braucht die intensive Auseinandersetzung. Auch in Politik und Gesellschaft tauchen immer mehr Leute auf, die einfache Antworten auf komplexe Fragen geben und dadurch das Volk aufzuwiegeln versuchen. Barnes will hier gewiss nicht ein neues Weltbild entwickeln. Er regt nur an, holt aus der Komfortzone raus: Ohne eigenständiges Denken geht es nicht. Es lebe der weltanschauliche und kulturelle Pluralismus!
Ein Buch, über das man trefflich streiten kann. Dazu muss man es aber erst einmal lesen. Dafür steht hier meine ausdrückliche Lese-Empfehlung.
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