Rezension (5/5*) zu Eine Liebe (Quartbuch) von Sara Mesa

Literaturhexle

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2. April 2017
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Stadtflucht auf Spanisch

Natalia hat sich ein baufälliges Haus in La Escapa, einem kleinen Ort in der spanischen Einöde gemietet. Es wirkt verwahrlost, dreckig, marode und voller Ungeziefer, aber sie kann sich nichts Besseres leisten. Nat arbeitet hart, um Haus und Grundstück auf Vordermann zu bringen – mit mäßigem Erfolg. Der Vermieter ist wenig kooperativ, ein misogyner Macho, der ohne Voranmeldung in der Wohnung steht, Nat einschüchtert und Angst verbreitet. Von ihm bekommt Nat wunschgemäß einen Hund, der leider auch nicht ihren Erwartungen entspricht: anstatt sie zu bewachen und ihr die Einsamkeit zu vertreiben, verhält sich das Tier scheu und kann mit Nähe schwer umgehen. Im Ort wohnen nur wenige, zumeist schrullige, Leute. Es fällt Nat schwer, Anschluss zu finden. Die meisten Menschen stehen der Neubürgerin offensichtlich skeptisch gegenüber. Ausnahme ist Piter, genannt „der Hippie“. Er nimmt sich als Erster der jungen Frau an, lädt sie ein, informiert sie über regionale Gepflogenheiten und gibt ihr Tipps. Sexuelle Interessen scheint er entgegen Nats Befürchtungen nicht zu haben, aber uneigennützig ist er auch nicht. Piter möchte Einfluss auf Nat ausüben. Sie soll das umsetzen, was er ihr rät, sich nach ihm richten. Seine Dominanz führt zu ihrem Rückzug. Als heftige Regenfälle Nats Dach durchdringen und sich in der Wohnung wiederholt Seen bilden, weiß Nat sich keinen Rat mehr: Der Vermieter verweigert die Reparatur, das Geld für einen Handwerker fehlt. In dieser ausweglosen Situation kommt „der Deutsche“, ein zurückgezogen lebender Einsiedler, ins Spiel: Er bietet Nat an, das Dach zu reparieren, allerdings möchte er eine besondere Gegenleistung dafür. An dieser Stelle ist ein Höhepunkt erreicht, von dem aus sich das Romangeschehen höchst fesselnd weiter entwickelt…

Der Roman gibt in personalem Erzählstil fast ausschließlich Nats Perspektive wider. Man kommt ihren Gedanken und Innensichten sehr nah. Sie ist eine Anti-Heldin, hat wenig Durchsetzungskraft und Selbstbewusstsein. Sie wirkt an diesem Ort mit seinen kauzigen, aufeinander eingespielten Bewohnern seltsam fremd und hilflos. Offensichtlich sucht sie einen Neuanfang, an dem ihre Träume und Vorstellungen jedoch zu scheitern drohen. Von Beginn an wird die Geschichte von einer latenten Melancholie durchzogen, die Stimmung ist gedrückt, die dörfliche Atmosphäre fast feindselig. Auch als Nat eine Beziehung mit einem Mann anfängt, entwickelt sich diese kompliziert und distanziert, „eine Liebe“ sucht man vergeblich. Mit der Zeit entwickelt Nat jedoch eine ungesunde Obsession ihm gegenüber. Als ihre Gefühlswelt zusätzlich durch eine folgenschweren Unfall erschüttert wird, bringt das nicht nur ihres, sondern auch das Gleichgewicht unter den Dorfbewohnern durcheinander…

Sowohl Figuren wie Atmosphäre werden präzise eingefangen, man kann sich das Szenario wunderbar vorstellen. Man versucht, das Verhalten der Protagonistin nachzuvollziehen. Sie ist eine einsame, schwierige Frau. Über ihre erlittenen Verletzungen wird man weitgehend im Dunklen gelassen. Manchmal teilt sie Fragmente aus ihrer Vergangenheit mit, jedoch zeigt sie oft auch widersprüchliches Verhalten, das man schwer einordnen kann. Auch ihre Interaktion mit anderen Menschen erleben wir nur durch ihre Wahrnehmung. In Konfliktsituationen zeigen sich Unterschiede. Der Leser darf selbst werten, denn Nats Perspektive ist nicht objektiv. Mich hat das Erlebnis- und Gedankenkarussell der Protagonistin von Anfang an gefesselt. Nat durchläuft eine Entwicklung. Sie nimmt sich selbst zunächst sehr wichtig, ist süchtig nach Anerkennung, dabei aber auch innerlich zutiefst gespalten. Bleibt die Bestätigung aus, verunsichert sie das.

Sara Mesa hat den dörflichen Mikrokosmos sehr glaubwürdig eingefangen. Sie schreibt in einer höchst kraftvollen, klaren Sprache. Sie hat ein Gefühl für Dramatik und menschliche Befindlichkeiten. Man wird trotz der ruhigen Erzählweise in den Bann dieses stimmig konstruierten Romans gezogen, der mehrere Wendepunkte bereithält und zu überraschen weiß. Er zeigt die Dynamik kleiner, ländlicher Gemeinschaften, in der mehr übereinander als miteinander gesprochen wird und fast jeder ein Geheimnis zu haben scheint. Es finden nur wenig offene Dialoge statt, auch die Autorin verschweigt manches, was den Leser wiederum neugierig halten sollte.

„Eine Liebe“ ist ein sehr besonderes, intensives Leseerlebnis. Man darf nicht den Anspruch haben, Natalia mögen zu wollen. Das dürfte angesichts ihres ambivalenten Charakters schwer fallen. Doch sie ist in all ihrer persönlichen Zerrissenheit eine glaubwürdige Figur, der ich gerne gefolgt bin. Sara Mesa zeigt großes schriftstellerisches Talent, sie beweist viel Empathie mit ihren Figuren. Das Ende hält sie realistisch und in Teilen offen, auch im realen Leben ist nicht alles logisch erklärbar.

Aus meiner Sicht ist die Romankonstruktion überaus gelungen: Der Anfang passt zum Ende, in der Rückschau zeigt sich, wie stimmig Mesa ihre Handlung rund um Nat gewebt hat. Die Autorin lässt dabei Leerstellen, über die man diskutieren kann. „Eine Liebe“ ist kein Liebesroman. Er behandelt die großen Themen menschlichen Zusammenlebens vor einem zeitgenössischen Hintergrund und liefert das Psychogramm einer verletzten jungen Frau auf der Suche nach sich selbst und einem Neuanfang.

Gewiss ist dies kein Buch für Jedermann. Mich hat der Roman jedoch fasziniert und begeistert. Wer psychologisch dichte Literatur schätzt, sollte hier zugreifen.

 

Naibenak

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2. August 2021
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Oh... nachdem so viele diesen Roman eher mittelmäßig oder schlechter fanden, habe ich mit großer Neugier deine Rezi gelesen. Und ich glaube fast, dass ich diesen Roman auch mögen würde. Du beschreibst ihn sehr schön! Ich werde ihn jetzt also doch wieder auf die Wuli packen ;-) Danke dir!
 

kingofmusic

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Oh... nachdem so viele diesen Roman eher mittelmäßig oder schlechter fanden, habe ich mit großer Neugier deine Rezi gelesen. Und ich glaube fast, dass ich diesen Roman auch mögen würde. Du beschreibst ihn sehr schön! Ich werde ihn jetzt also doch wieder auf die Wuli packen ;-) Danke dir!
Wie leicht du doch zu verführen bist in Bezug auf Bücher :p :rofl .Aber tröste dich: mir geht es nicht anders ha ha ha.
 
  • Haha
Reaktionen: Naibenak