Rezension Rezension (5/5*) zu Ein wenig Leben: Roman von Hanya Yanagihara.

Anjuta

Bekanntes Mitglied
8. Januar 2016
1.638
4.786
49
62
Essen
Buchinformationen und Rezensionen zu Ein wenig Leben: Roman von Hanya Yanagihara
Kaufen >
Eine Ode an die Freundschaft

Mit „Ein wenig Leben“ hat die amerikanische Autorin Hanya Yanagihara vor einigen Jahren einen vielbeachteten und -gelesenen Roman geschrieben. Seine Lektüre hat mich in diesem Sommer sehr beschäftigt. Und damit meine ich nicht nur die zeitliche Dimension, die vielen Stunden, die die mehr als 900 Seiten dieses dicken Wälzers mir abverlangt haben.
In dem Buch wird das Leben eines zutiefst verletzten Menschen (Jude) über mehrere Jahrzehnte hinweg schonungslos und den Leser tief berührend geschildert. Seine Kindheit voller Missachtung, Verletzungen und Misshandlung hat Jude sehr nachhaltig geprägt. Das alles hat seinen Geist und Körper so stark in den Griff genommen, dass er über sein Leben hinweg nicht psychisch, sondern auch physisch zutiefst kranker Mensch ist. Wenn der Leser so langsam und bruchstückhaft in dem Roman erfährt, was alles Jude in seiner Kindheit widerfahren ist, dann erscheint beim Lesen der Sprung, den Jude in seinem späteren Leben hin zum Staranwalt in Manhattan gemacht hat, eine absolut wahnsinnige Entwicklung. Denn bei all seiner Intelligenz und seinem Arbeitseifer steht Jude sich auch vor allem ständig selbst im Wege, mit seinem Selbsthass, mit seiner tiefen Verachtung sich selbst gegenüber und den Verletzungen, die er sich selbst zufügt. Aber da ist auch ein tief verwurzeltes und ungemein tragfähiges Beziehungsgeflecht zu Freunden, die ihn jahrzehntelang begleiten in dem ständigen Versuch, seinen Selbsthass anzukratzen und aufzuweichen.
Da ist vor allem Willem, ein bekannter Filmschauspieler, mit dem er sich schon zu Studienzeiten eine Wohnung teilt und mit dem er Jahre später eine ganz besondere Beziehung eingeht, die vor allem durch die freundschaftliche Verantwortung füreinander geprägt ist.
Da ist Harold, sein Professor, der ihn zusammen mit seiner Frau Julia adoptiert und als Sohn in die Familie aufnimmt.
Da ist Andy, sein Arzt, zu dem Jude so viel Vertrauen entwickeln kann, dass er als einziger einigermaßen angstfreien Zugang zu seinem Körper erhält.
Da sind eine Reihe anderer Freunde aus Studienzeiten, die im Roman zwar relativ wenig Konturen als selbständige Figuren erhalten, aber in allen Situationen von Judes Leben wie ein Sicherheitsnetz für ihn bereitstehen und so eine Verkörperung des starken Freundschaftsbegriffs sind, der in diesem Roman Thema ist.
Und so quält und feiert sich Jude über den Roman hinweg durch sein Leben. Yanagiharas besondere Leistung in diesem Roman ist es, diese paradoxe Gleichzeitigkeit glaubwürdig und tief ergreifend darstellen zu können. Denn bei allem Selbsthass ist da doch auch immer wieder und permanent ein Element von starkem Lebensmut und Kraft. Diese Darstellungsweise der Autorin ist einzigartig und meisterlich!
FAZIT:
Dieses Buch hat es mir zunächst nicht leicht gemacht. Ich habe es in die Hand genommen mit der Erwartung, ein Buch über die Freundschaft von vier Männern zu lesen (so der Klappentext) und war über ca. die ersten 300 Seiten ziemlich frustriert, weil ich diese vier Männer lesend nicht zu fassen bekam. Der Text sprang von einem zum anderen und verweilte nicht, um mir den Zugang zu den Personen zu erlauben. Nach 300 Seiten hatte ich noch immer keinen Schimmer, was mit dieser Freundschaft Anderes gemeint sein konnte, als etwa gemeinsam Essen oder ins Theater zu gehen. Und die Personen, die dies miteinander taten, blieben mir auch im Nebel verborgen.
Ich habe dann eine Lesepause eingelegt, war aber überzeugt, dass ich dem Buch noch eine Chance geben wollte. Da war eine Stärke im Buch (für mich noch) verborgen, die ich mir noch erschließen wollte. ZUM GLÜCK! Denn beim zweiten Anlauf hat mich dann der Klappentext nicht mehr so stark in eine nach meiner Meinung falsche Richtung geleitet und ich habe den Roman mit einer neuen, offeneren Erwartung gelesen. Es geht um Jude! Und das ist auch gut so! Denn das ist eine Geschichte, die man nicht mit anderen vermengen muss und sollte, denn da steckt so viel drin! Und ja, es geht um Freundschaft. Es geht um Freundschaft als heilendes Element, das aber auch seine Grenzen hat und versagen kann.
Mit diesem Ansatz dann habe ich das Buch verschlungen und wurde von ihm zutiefst gefangen genommen. Ein wirklich großer (nicht nur ein langer) Roman, der alle guten Besprechungen und erhaltenen Auszeichnungen verdient. Lange hat mich ein Buch nicht mehr so tief bewegt und ich denke, seine Bilder und Figuren werden mich noch sehr, sehr lange begleiten.
Also: ohne Frage 5 Sterne.



 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.435
49.835
49
Denn beim zweiten Anlauf hat mich dann der Klappentext nicht mehr so stark in eine nach meiner Meinung falsche Richtung geleitet und ich habe den Roman mit einer neuen, offeneren Erwartung gelesen.
Klappentexte sollte man meiden ;)
Wie schön gesagt, ich mochte das Buch auch sehr. Deine Rezension hat es mir wieder ins Gedächtnis gebracht. Danke hierfür :)