Rezension Rezension (5/5*) zu Ein untadeliger Mann: Roman von Jane Gardam.

parden

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13. April 2014
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7.675
49
Niederrhein
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Buchinformationen und Rezensionen zu Ein untadeliger Mann: Roman von Jane Gardam
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Ein bewegendes Leben im untergehenden British Empire...

Edward Feathers, einst Kronanwalt in Hongkong, vollendeter Gentleman und noch mit achtzig ein schöner Mann, scheint ein mühelos erfolgreiches Leben gehabt zu haben, doch wer hat ihn wirklich gekannt? Nicht einmal seiner Frau Betty hat er je erzählt, woher das Stottern kommt, das ihn in Augenblicken großer Aufregung immer noch überwältigt. Als Betty stirbt, bewahrt Old Filth, wie er auch genannt wird - nicht im Sinne von 'Schmutz', sondern gemäß dem Spruch: 'Failed in London, try Hongkong' - wie gewohnt Contenance. Doch eines Morgens setzt er sich ans Steuer seines Wagens und fährt los, das eigene Leben zu erkunden.


"Der disziplinierte Charme, der Filth sein Leben lang ausgezeichnet hatte, hatte es gut überstanden. Jedenfalls hatte es den Anschein. Im Rückblick war Filth jedoch bewusst, dass er hinter seiner äußerlichen Abgeklärtheit psychisch zusammengebrochen war, und dass ein psychischer Zusammenbruch bei jemandem, der die Schauspielerei verinnerlicht hat (wie etwa ein Kronanwalt), unsichtbar sein kann. Für den Betroffenen ebenso wie für alle anderen" (S. 19 f.)


Was für ein köstlicher Roman! Er gibt nicht gerne seine Geheimnisse preis, ganz passend zu Edward Feahters, der gemäß dem anerzogenen Motto keep a stiff upper lip sich je weder Verletzlichkeit noch überschwängliche Freude anmerken lässt - doch allmählich zeigen sich die losen Fäden, auch wenn sie erst noch mühselig aus dem Lebensknäuel gezogen werden müssen. Ein vielschichtiger Roman ist es, der nicht linear erzählt wird, sondern wechselnd in der Gegenwart spielt und dann wieder in die Vergangenheit des langjährigen Lebens von Filth eintaucht.

Geboren in Britisch-Indien, teilte Edward Feathers das Schicksal zahlloser Kinder britischer Kolonialbeamter, die im Alter von vier oder fünf Jahren aus den Kolonien fortgeschickt wurden nach England und als sog. 'Raj-Waisen' galten. Ohne Eltern wuchsen sie bei ihnen unbekannten Angehörigen oder aber bei Pflegeeltern auf, die sich um diese Kinder kümmerten, bis sie ein Internat besuchen konnten. Filth traf es gemeinsam mit zwei Cousinen nicht sehr gut an bei seinen Pflegeeltern, doch lange geht die Erzählung hier über Andeutungen nicht hinaus.


"Vor ihm tat sich der Abgrund seiner Ungewissheit auf. Ich bin immer noch der Fremde. Für sie. Und für mich selbst auch, hier. Ich habe keinen Hintergrund. Ich wurde von meinem Hintergrund geschält." (S. 123)


Diese Fremdheit, diese Einsamkeit, dieses immer wieder Verlassenwerden zieht sich durch Filth' ganzes Leben und prägt ihn. Die Diszipliniertheit wird ihm zur schützenden Fassade, Vergangenes wird verdrängt. Doch Bettys Tod erschüttert, die Fassade erhält Risse. Edward Feathers macht sich auf den Weg, sucht noch einmal Orte und Menschen seiner Vergangenheit auf, beginnt sich zu erinnern - und zu erkennen.


"Wir haben gar keine Kinder (...) Wir wollten keine. Man muss sich gut überlegen, ob man Kinder in die Welt setzen will. Betty und ich waren sogenannte Empire-Waisen. Wir wurden mit vier oder fünf Jahren in Pflegefamilien gegeben und haben unsere Eltern dann mindestens vier Jahre nicht gesehen. Wir hatten Pech. Bettys Pflegeletern mochten sie nicht, und meine (...) wurden ausgewählt, weil sie billig waren. Wenn man als Kind nicht geliebt wird, kann man später kein Kind lieben. Man muss das erfahren haben (...) Ich wurde, nachdem ich viereinhalb war, nicht mehr geliebt. Stellen Sie sich vor, da Eltern zu sein." (S. 216)


Dieser Roman nimmt sich Zeit. Zeit zum Erzählen, zum Entdecken, zum Erkennen. Vielschichtig und in einem bezaubernden und bildhaften Schreibstil lässt Jane Gardam den Leser eintauchen in das lange Leben Edward Filth, zutiefst menschlich, dazu scharfsinnig erzählt und keineswegs melancholisch, sondern immer wieder auch von trockenem Humor durchzogen. Diese Stellen kamen häufig so unerwartet, dass ich die Sätze manchesmal zweimal lesen musste, bevor ich begriff und wirklich lachen musste.


"Ich habe eine Tiefkühltruhe. Und Whiskey." --- "Whiskey?" --- "Ach, nur, falls jemand vorbeikommt. Die Polizei - sehr nette Leute, außerhalb der Arbeitszeiten. Sie haben mir so nett geholfen, als ich mal gestürzt bin. Der Vikar. Die einäugige Frau, die weiter unten wohnt. Der Fensterputzer. Ich mag den Fensterputzer. Ich lasse ihn einmal die Woche kommen. Wobei 'jemanden kommen lassen' natürlich nichts ist, was ich noch täte, ich hab's am Herzen." (S. 192)


Ein wenig irritierend fand ich zwischenzeitlich, dass so wenig über Ewards Frau Betty zu erfahren war. Doch dann bekam ich mit, dass dieser Roman der Beginn einer Trilogie ist - und Band zwei, der im März diesen Jahres erscheinen soll, wird aus der Sicht eben dieser Betty erzählt. Somit ist verständlich, weshalb hier manches noch unentdeckt blieb.

Ich freue mich, dass ich diesen Roman entdecken durfte, eine wundervolle Mischung aus Warmherzigkeit und Ironie. Und natürlich bin ich froh, dass es bald noch einen weiteren ins Deutsche übersetzten Roman aus der Feder Jane Gardams geben wird...


© Parden

 
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