Rezension Rezension (5/5*) zu Ein untadeliger Mann: Roman von Jane Gardam.

Querleserin

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30. Dezember 2015
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50
Wadern
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Hinter der Fassade der Tadellosigkeit

Inhalt

Edward Feathers scheint tatsächlich ein untadeliger Mann zu sein. Er ist immer akkurat gekleidet - Krawatte, Anzug, Hemd- und genießt als Anwalt und Richter einen legendären Ruf, den er sich während seiner Tätigkeit in Fernost - Hong Kong- erarbeitet hat.
Old Filth, wir er genannt wird, ist inzwischen über 80 Jahre alt und lebt alleine auf dem Land in England (Dorset), wo er sich nach seiner Tätigkeit gemeinsam mit seiner Frau Betty zurückgezogen hat, die jedoch inzwischen verstorben ist.
Die beiden waren allein - ohne Kinder und hatten nur wenige Freunde. Nach Bettys Tod bleiben das Hausmädchen und der Gärtner die Gesprächspartner des alten Feathers. Bis sich in unmittelbarer Nähe seines Hauses sein ehemaliger Rivale niederlässt. Die Szene, in der sich Eddie aussperrt und vor dessen Haustür mit Pantoffeln im Schnee steht - herrlich! Es ist der Beginn einer Freundschaft, der noch einige Zeit vergönnt ist - eine Freundschaft zwischen zwei einsamen alten Herren.
Doch ist dies nicht der Mittelpunkt des Romans, es ist die Vergangenheit Feathers, die nach dem Tod Bettys, an die Oberfläche drängt. So wagt er sich daran, sich seinen Erinnerungen zu stellen, indem er sich in sein Auto setzt und seine Cousinen besucht.

So erfahren die Zuhörenden Schritt von Schritt von Edwards Geburt Anfang der 20er Jahre in Malaysia, bei der seine Mutter gestorben ist, über die mangelnde Liebe und Beachtung seines Vaters bis zu seiner Reise nach England, wo fast alle Raj-Waisen des Empire zwischen den beiden Kriegen hingeschickt wurden, um in Pflegefamilien zu wohnen. Dabei hat sich Eddie in Malaysia wohl gefühlt, für ihn ist es eine traumatischer Lebenseinschnitt, vor allem weil er gemeinsam mit seinen Cousinen Claire und Babara von einer hartherzigen Frau in Wales aufgenommen wird - eine Zeit, die sein ganzes Leben prägt. Was dort geschieht, wird erst am Ende offenbart und so erschließt sich im Rückblick das scheinbar perfekte Verhalten Eddies - bedacht darauf, keine Fehler zuzulassen, aber auch niemanden an sich heranzulassen.
Von Wales aus verbringt er Zeit in einer Primary School, in der ihn der Leiter "Sir" maßgeblich beeinflusst und sein Stottern heilt. Dort lernt er seinen Freund Pat Ingoldby kennen, bei dem er fortan seine Ferien verbringt, da seine Tanten kaum Interesse an ihm zeigen. Er ist ohne familiären Halt, auch seine Ersatzfamilie kann ihm den nötigen Halt nicht geben. Bis nach Dorset ist es noch ein weiter Weg, den ich hier aber nicht nacherzählen will, denn das Vergnügen Edward Feathers zu begleiten, will ich nicht vorwegnehmen.

Bewertung
Dadurch, dass zu Beginn zwischen den Zeitebenen hin- und hergesprungen wird und jedem Teil eine Szene vorangestellt ist, in der über Old Filth gesprochen wird, braucht es beim Hörbuch etwas Zeit, in die Geschichte hineingezogen zu werden. Doch der Erzähler, der mit zarter Ironie und tadelloser, klarer Sprache, Edward Feathers Leben unter die Lupe nimmt, hat mich bereits nach kurzer Zeit in seinen Bann gezogen. Dazu trägt maßgeblich der Sprecher Ulrich Noethen bei, der den einzelnen Figuren unverwechselbare Stimmen schenkt, und die zunehmend spannende Geschichte.

Fasziniert hat mich der Charakter Edward Feathers - der hinter seiner tadellosen Fassade eine tiefe Einsamkeit verbirgt. Ein Mensch, der in der sensiblen Phase seiner Kindheit Zurückweisung, Missachtung, Häme erlebt hat und ein Geheimnis mit sich trägt, das ihn lebenslang belastet. Der selbst kaum Zuneigung schenken kann und dem es schwer fällt, Freunde zu gewinnen. Eigentlich ein bedauernswerter Mensch, der Opfer eines Systems wurde, das Kinder, deren Eltern in Fernost dem Empire dienten, entwurzelte.
Der Roman ist Teil einer Trilogie, wobei die Protagonisten eben jene Raj-Waisen sind, die vom Trauma der Trennung gezeichnet sind.

Insgesamt ein sehr interessanter und spannender Roman, der das Leben eines nur scheinbar untadeligen Mannes Schicht für Schicht freilegt und seine Schattenseiten aufdeckt, in der am Ende seines Lebens Licht bringen kann.

Eine klare Leseempfehlung und sicherlich werde ich auch noch die weiteren Teile der Trilogie, Eine treue Frau und Letzte Freunde, hören oder lesen.

 

Helmut Pöll

Moderator
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9. Dezember 2013
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München
Für mich war das auch eines meiner Lesehighlights in diesem Jahr,
@Querleserin . Man erfährt ja meist immer nur Geschichten darüber, wie groß und mächtig das Empire war, aber selten welchen Preis viele dafür bezahlt haben. Über Jahrhunderte wurden ja Kinder, deren Väter wichtige Posten in den Kolonien hatten, früh zur Erziehung nach England geschickt, wo sie dann in Pflegefamilien aufwuchsen und gedrillt wurden.
 
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