Rezension Rezension (5/5*) zu Ein ganzes Leben: Roman von Robert Seethaler.

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
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Buchinformationen und Rezensionen zu Ein ganzes Leben von Robert Seethaler
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Ein stiller Roman, der ein ganzes, einfaches Leben erzählt

Inhalt
Andreas Egger gelangt mit ca. 4 Jahren 1902 in ein Tal in Österreich, in dem er den größten Teil seines Lebens verbringen wird. Bauer Kranzstocker nimmt ihn widerwillig bei sich auf, der er der Sohn einer verstorbenen Schwägerin ist. Andreas wird oft vom Bauern mit einer Gerte geschlagen, einmal so heftig, dass sein Oberschenkelknochen bricht. Die Folge ist ein lebenslanges Hinken, da das Bein nicht mehr richtig zusammenwächst. Trotzdem reift er zu einem starken jungen Mann heran, der jegliche Arbeit im Dorf verrichten kann. Nach einem seltsamen Ereignis mit einem sterbenden Ziegenhirten im Jahr 1933, der sich weigert, sich von ihm ins Dorf bringen zu lassen und im Schnee verschwindet, lernt er im Wirtshaus die Liebe seines Lebens kennen, Marie.

"Noch einen?, fragte die junge Frau und Egger nickte. Sie brachte ein neues Glas, und als sie sich nach vorne beugte, um es auf den Tisch zu stellen, berührte sie mit einer Falte ihrer Bluse seinen Oberarm. Die Berührung war kaum zu spüren, doch hinterließ sie eine feinen Schmerz, der mit jeder Sekunde tiefer in sein Fleisch zu sinken schien. Er sah sie an, und sie lächelte." (S.13)


Mit Andreas erlebt der Leser die zunehmende Eroberung der Alpen durch die Menschen, er selbst hilft beim Aufbau der Seilbahnen, die die Touristen auf die Gipfel bringen.
Doch dann überschattet ein Unglück den stillen, jungen Mann.

"Später erinnerte er sich an die Jahre nach der Lawine als an eine leere, schweigende Zeit, die sich nur langsam und beinahe unmerklich wieder mit Leben füllte." (S.93)

Er wird trotz seines Hinkens zum Kriegsdienst abkommandiert und es wird die einzige Zeit sein, die er außerhalb des Tals verbringt. Als er aus der Kriegsgefangenschaft in Russland zurückkehrt, hat sich das Leben gewandelt und auch er muss sich eine neue Arbeit suchen, wobei er seiner Welt, den Bergen treu bleibt, mit denen bis ins hohe Alter tief verbunden ist.

"Offenbar suchten die Menschen in den Bergen etwas, von dem sie glaubten, es irgendwann vor langer Zeit verloren zu haben. Er kam nie dahinter, um was es sich dabei genau handelte, doch wurde er sich mit den Jahren immer sicherer, dass die Touristen im Grunde genommen weniger ihm als irgendeiner unbekannten, unstillbaren Sehnsucht hinterherstolperten." (S.141)

Bewertung
Es ist "Ein ganzes Leben", das Robert Seethaler vor uns ausbreitet. Das Leben eines stillen, starken Mannes, den viele für einen Sonderling halten. Einer, der keine großartigen Leistungen vollbringt, aber seinen Teil dazu beiträgt, dass sich etwas im Tal verändert. Ein Mann, den ein Schicksalsschlag trifft und der trotzdem weiterlebt und seinen Weg geht. Es ist ein einfaches Leben, das trotzdem von den großen Veränderungen des 20.Jahrhunderts berührt wird. Es sind aber nicht die geschichtlichen Ereignisse, die nachhallen:

"Die Vergangenheit schien sich in alle Richtungen zu krümmen und in der Erinnerung gerieten die Abläufe durcheinander beziehungsweise formten und gewichteten sich auf eigentümliche Weise immer wieder neu. Er hatte viel mehr Zeit in Russland verbracht als gemeinsam mit Marie, und doch schienen die Jahre im Kaukasus und in Woroschilowgrad kaum länger gewesen zu sein als die letzten Tage mit ihr. Die Zeit beim Seilbahnbau schrumpfte im Rückblick auf die Länge einer einzigen Saison zusammen, während es ihm vorkam, als hätte er sein halbes Leben über einer Ochsenstange hängend verbracht, mit Blick auf die Erde, den kleinen weißen Hintern gegen den Abendhimmel gereckt." (S.117)

In der Erinnerung realisiert Andreas Egger, dass die Ereignisse, die uns emotional am meisten berühren, im Gedächtnis den größten Raum einnehmen. Dass sie es sind, die unser Leben auszeichnen und einzigartig machen.
Besonders ist auch die ruhig, dahinfließende Sprache, die immer wieder mit ungewöhnlichen Bildern und philosophischen Gedanken aufwartet:

"Manchmal, in lauen Sommernächten, breitete er irgendwo auf einer frisch gemähten Wiese eine Decke aus, legte sich auf den Rücken und blickte zum Sternenhimmel hinauf. Dann dachte er an seine Zukunft, die sich so unendlich weit vor ihm ausbreitete, gerade weil er nichts von ihr erwartete." (S.34)

Es sind diese stillen, unaufgeregten Passagen, die den Roman zu etwas Besonderem machen.