Rezension (5/5*) zu Durch deine Augen: Roman von Peter Hoeg

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Buchinformationen und Rezensionen zu Durch deine Augen: Roman von Peter Hoeg
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Surreal. Genial atmosphärisch. Gruselig.

Der Protagonist und Icherzähler, Peter, verarbeitet gerade seine Scheidung, seine Ex wird durchgängig nur als „Mutter meiner Kinder“ bezeichnet; er hat ein gemeinsames Sorgerecht mit ihr. Trotzdem sind die Kinder bei der Mutter geblieben, was ihm sehr zusetzt. Da wird er angerufen: Sein bester Freund Simon aus Kindheitstagen hat versucht, sich das Leben zu nehmen. Warum hat man ausgerechnet Peter informiert und nicht dessen Ehefrau?

Als Peter im Folgenden versucht, Simon „zu erreichen“, ihm nahe zu kommen, ihn zu verstehen und womöglich von einem zweiten Versuch abzuhalten, trifft er Lisa wieder. Und Conni. Und Klaus. Alles Kindergartenfreunde. Nicht allen begegnet er analog. Lisa ist Wissenschaftlerin geworden und hat eine bahnbrechende, der Allgemeinheit noch nicht zugängliche Erfindung gemacht: Mit bestimmten Apparaten ist es möglich, in einer Art Personalunion in das Bewusstsein/Unterbewusste von Probanten zu gelangen. Das sind meistens Menschen mit einem Trauma, denen Lisa und ihre Kollegen zu helfen versuchen, denn Verstehen bedeutet Helfen. Tausende von „Scannings von menschlichen Bewusstseinsinhalten“ hat Lisa gemacht und blättert sie mit Peter durch. Diese Fallstudien können einem ganz schön an die Nieren gehen!

Hoeg erzählt auf zwei Ebenen. Auf der einen reist er mit Lisa zurück in seine Kindheit und stellt sich ihr als eine Art Medium zur Verfügung. Denn Lisa hat selber ein Trauma erlitten und ihre Kindheit vergessen. Auf der anderen Ebene lebt er in der Gegenwart, betreut seine Kinder, lernt Lisa neu kennen und wird in ihrer Arbeitswelt heimisch.

Hoeg spielt mit vielen Themen gleichzeitg, ja, er jongliert geradezu mit ihnen. Gibt es ein kollektives Bewusstsein von erlittener Gewalt, von Schmerz, von Leid und hat dies Auswirkungen auf heute? Lisa spricht von „Dunkeldänemark“. Alles Dunkle, was unter den Teppich gekehrt ist und wird in der Gesellschaft. „Ich sah ein Dänemark, von dessen Existenz ich keine Ahnung hatte.“ Das macht nachdenklich. Dunkeldänemark ist überall. Das meiste sind Beziehungstaten. Begangen wiederum aus einst erlittenem Unrecht. Könnte man diese Kette unterbrechen?

Ein anderes Thema, und hängt wiederum mittelbar mit der zu bewältigenden Scheidung zusammen, ist die menschliche Einsamkeit per se und die Trauer darüber, dass die durch den Körper gesetzten Grenzen nicht überschritten werden können. Einsamkeit und Grenzgängertum. Davon schreibt der Autor. Ist diese Grenze jemals auflösbar? Das Kevala, eine Droge, wird eingesetzt.

Ein weiteres Thema ist die Kindheit als besondere Menschheitszeit, in der manche dafür empfängliche Menschen/also Kinder noch zugänglich und offen für alles sind. Wiederum ein Thema ist der Tod. „Die Toten nehmen ihre Träume mit“, sagt Fräulein Jonna.

In einem surrealen Roadmovie rückwärts in die Vergangenheit lässt Hoeg seine Kinderfreunde hellsichtig werden und erst sozial miteinander verschmelzen, „man spielt besser mit Spielzeug, das man geteilt hat“. Danach verschmelzen sie psychisch auf einer surrealen Ebene, indem sie einander in ihren Träumen besuchen. Die Kinder sind Grenzgänger und Traumwandler. In dem Maße wie sie erwachsen werden, verlieren sie den Faden zueinander.

Das ganze von Hoeg aufgestellte Szenario wirkt gruselig und traurig zugleich, es ist eine surreale Fantasiewelt mit jeder Menge Sog und Atmosphäre und philosophisch aufgeladenen Sätzen, eine innere Welt, die der Autor erschaffen hat, die durchaus viel Wahrheit enthält.

„Vielleicht gibt es Gründe, dass der menschliche Kontakt nur sehr maßvoll ist. Vielleicht ist der tiefe Zusammenhang zwischen Menschen auch bedrohlich“, sagt Lisa.

„Mit deinen Augen“ von Peter Hoeg, zeigt unter anderem, wie schwierig es ist, die inneren tieferen Beweggründe des Handelns anderer Menschen zu begreifen. Da ist bei aller Vertrautheit immer noch eine seelische Dimension, die nicht zugänglich ist. Das mag uns eine Warnung sein, denn wie oft maßen wir uns an, zu bestimmen, was gut für den anderen ist.

Der Roman ist aber auch eine nicht ganz ernst zu nehmende schriftstellerische Spielerei mit diversen Elementen aus der Fantasy, dem Beziehungsroman und dem Wissenschaftsschocker. Samt autobiografischen Anteilen.

Fazit: Ein surrealistischer Roman mit gruseliger Atmosphäre, der mit vielen Facetten des Menschseins spielt. Humorvoll, tiefsinnig, philosophisch. Sein angeblich wissenschaftliches Setting darf man allerdings nicht ernst nehmen. Dann hat man, wenn man für Hoegs Gedankenwelt zugänglich ist, Freude an dem Roman und eine ganze Menge zu knabbern.

Kategorie: Belletristik. Anspruchsvolle Literatur
Hanserverlag, 2019