Rezension (5/5*) zu Dunkelblum: Roman von Eva Menasse

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Buchinformationen und Rezensionen zu Dunkelblum: Roman von Eva Menasse
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Lebendiges Diorama von der Grenze

"Die ganze Wahrheit wird, wie der Name schon sagt, von allen Beteiligten gemeinsam gewusst. Deshalb kriegt man sie nachher nie mehr richtig zusammen. Denn von jenen, die ein Stück von ihr besessen haben, sind dann immer gleich ein paar schon tot. Oder sie lügen, oder sie haben ein schlechtes Gedächtnis."

Dunkelblum ist eine fiktive Kleinstadt im österreichischen Burgenland, nahe der ungarischen Grenze. Durch diese Grenznähe hat der Ort seit jeher eine bewegte Vergangenheit. "Drüben" nennt man Ungarn, "drüberisch" die Sprache, die viele Dunkelblumer noch beherrschen, obwohl sie seit Jahren unpopulär geworden ist. Wir befinden uns im Jahr 1989, die Grenze zum Ostblock beginnt durchlässig zu werden, die Öffnung zeichnet sich ab. Es gibt ein Grafenschloss in Dunkelblum, das längst abgebrannt ist, nur ein Turm und die Gruft stehen noch, die Grafenfamilie kommt selten zu Besuch vorbei. Es gibt drei Friedhöfe, darunter einen vergessenen und vernachlässigten jüdischen, der von einigen Studenten aus der Hauptstadt wieder in Ordnung gebracht werden soll. Ein Fremder kommt mit dem Zug angereist, um zwei alte Frauen aufzusuchen, die er von früher kennt - und um vergessene Gräber zu finden. Und der junge Lowetz, der schon lange aus Dunkelblum abgehauen ist, kommt zurück, um das Haus seiner verstorbenen Mutter auszuräumen. Es passiert vieles gleichzeitig, was die Vergangenheit des kleinen Ortes aufrührt.

Die Autorin stellt nicht geringe Anforderungen an die Leserschaft. Das Personal ist unübersichtlich, eine Menge Namen tauchen auf. In mehr oder weniger ungeordneten Zeitsprüngen wird die Vergangenheit des Ortes miterzählt. Die den aktuellen Dunkelblumern vorhergehende Generation vermehrt die Personenliste noch. Eine große Anzahl von Einzelschicksalen wird ausgebreitet. Es ist bewundernswert, wie Eva Menasse alle Fäden ihrer Erzählung straff und kontrolliert in der Hand hält, aber jene Fäden bilden ein vielfach verfitztes buntes Knäuel. Zum Glück ist Frau Menasses Stil leicht, treffend und von trockenem Humor. Jede der handelnden Personen tritt mit ihren Eigenarten plastisch hervor, ist einfühlsam charakterisiert, so dass jeder sein Gesicht bekommt. Motoren des Geschehens sind vor allem der junge Lowetz, der nach den Papieren seiner toten Muttere Eszter sucht, eine "goscherte", d.h. vorlaute jüngste Tochter eines ansässigen Weinbauern namens Flocke Melnitz, der Ladeninhaber Antal Grün, der wegen seiner jüdischen Herkunft aus Dunkelblum vertrieben wurde und zurückkehrte, um den Laden seiner Mutter wieder zu öffnen, und der wenig beliebte und vom Leben enttäuschte Reisebüroinhaber Rehberg, der Vergangenheitsforschung betreibt.

In immer neuen und bewegten Szenen schält die Autorin die Vergangenheit nach und nach ab wie die Schalen einer Zwiebel. Es ist bewundernswert, welche Vielzahl an Einzelereignissen (die dann doch wieder alle zusammenhängen) sie auffächert und mit neu geschaffenen Verbindungen immer wieder neu beleuchtet. Unter den vielen Verbrechen der Jahre vor Kriegsende gibt es eines, das einer großen Feier im Grafenschloss folgte und von dem alle damals lebenden Dunkelblumer wissen, das aber beharrlich vertuscht werden soll, und diese Vertuschung zieht immer neue Übeltaten nach sich bis in die Gegenwart der achtziger Jahre. Der große erleichternde Knall, der nach Krimiart alles auflöst, bleibt aus. "Das ist nicht das Ende der Geschichte" stellt die Autorin im letzten Kapitel fest. Es ist eine interessante Eigenart dieses Romans, dass am Ende die Leser mehr wissen als die Personen - eben deshalb, weil, wie Menasse schreibt, die "ganze Wahrheit" immer von vielen Beteiligten gemeinsam gewusst wird, und jeder weiß nur ein Stück von ihr.

"Dunkelblum" ist ein Buch, das gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Natürlich ist es, muss man feststellen, das x-te Vergangenheitsbewältigungbuch. Das aber auf eine Art und Weise frisch und neu geschrieben ist, wie man es nicht kennt. Obwohl es von finsteren Zeiten handelt, von Verbrechen und Vertuschen übelster Sorte, ist "Dunkelblum" kein schwieriges und bedrückendes Buch. Bringt man die nötige Aufmerksamkeit beim Lesen mit, ist es sogar - in bestem Sinne - unterhaltsam, weil die Autorin mit stilistischer Anmut und Feinheit das Dunkle und Schwere der Handlung mildert. Es gibt in Dunkelblum Verbrecher und Unbelehrbare, Mittäter und Mitläufer, Mitwisser und - immer noch - Opfer. Doch unter den Hauptpersonen gibt es nur wenige, für die man nicht irgendwie Verständnis aufbringen könnte, so menschlich und humorvoll schildert die Autorin ihre Eigenheiten und Schicksale. Ganz, ganz große Erzählkunst in einem unbedingt preiswürdigen Buch. Ich würde gern sechs von fünf Punkten geben!





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