Rezension (5/5*) zu Dunkelblum: Roman von Eva Menasse

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Dunkelblum: Roman von Eva Menasse
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Eine jahrzehntelange Verschwörung des Grauens


„In Dunkelblum haben die Mauern Ohren, die Blüten in den Gärten haben Augen, sie drehen ihre Köpfchen hierhin und dorthin, damit ihnen nichts entgeht, und das Gras registriert mit seinen Schnurrhaaren jeden Schritt.“

Schon mit diesem ersten Satz wird die Atmosphäre in der fiktiven Kleinstadt Dunkelblum sehr gut umrissen, einem Ort, der im Burgenland direkt an der ungarischen Grenze liegt. Dieser Grenze, die den Ort seit Jahrzehnten isoliert, wird Ende August 1989 wieder Leben eingehaucht. Der eiserne Vorhang bröckelt, zunächst kommen nur einzelne DDR-Flüchtlinge, später strömen die Trabbis hindurch gen Westen. Während sich also Weltgeschichte in Dunkelblum ereignet, wird der Ort zur gleichen Zeit mit seiner lange zurückliegenden Vergangenheit konfrontiert.

Dunkelblum ist ein Mikrokosmos. Nicht nur der Name klingt düster. Von Beginn an ist klar, dass hier etwas Schlimmes geschehen ist, was weitere Akte von Misstrauen, Unrecht und Intrigen nach sich zog. Alles beginnt damit, dass nach Wasseradern für die örtliche Wasserversorgung gesucht wird und dabei die Überreste einer vor mindestens 40 Jahren getöteten Person zutage treten. Das weckt Erinnerungen im Dorf. Bereits seit Längerem gibt es Pläne, ein kleines Heimatmuseum zu gründen, wofür schon Dokumente, Erinnerungen und Ausstellungsstücke gesammelt wurden. Nicht jeder Bewohner befürwortet dieses Projekt, es existiert sogar offener Widerstand dagegen. Gerüchte gibt es genug. Nun kommt auch noch ein Fremder in den Ort, der ebenfalls unbequeme Fragen stellt und sich für verschwundene Juden sowie den seit Jahrzehnten verwahrlosten jüdischen Friedhof interessiert, in dem zu allem Überfluss neuerdings junge Leute aus der Stadt arbeiten und Grabsteine freilegen, um „die unendlich langsame Zerstörungskraft der Vegetation“ zu stoppen. Dazu kehrt auch noch ein Sohn nach langer Zeit Heim - eigentlich um das Elternhaus zu verkaufen, aber dann entwickelt sich für ihn doch alles ganz anders.

All diese Entwicklungen rühren an den Grundfesten der Dorfbewohner. Es gibt eine Allianz der Alten, der Wissenden, die sich in einem einig sind, nämlich dass man über bestimmte Ereignisse, die sich rund um das Kriegsende 1945 und darüber hinaus zugetragen haben, den Mund halten muss. Zahlreiche Andeutungen legen nahe, dass damals eine Massenerschießung von jüdischen und unliebsamen Zwangsarbeitern stattgefunden haben muss. Wer ist dafür verantwortlich, wer ist dahinein verstrickt, wen trifft die Schuld, wen belastet vielleicht sein Gewissen? Gab es in Folge sogar Vergeltungsmaßnahmen, um Mitwisser zum Schweigen zu bringen?

Eva Menasse entfaltet eine finster-spannende Atmosphäre, führt den Leser zurück in die Kriegs- und Nachkriegsjahre. Sie erzählt von jüdischen Familien, die den Ort auf verschiedene Art verlassen haben und ihre Habe zurücklassen mussten, sie erzählt von Nazis und Mitläufern, von Tätern und Opfern, sie entrollt tragische Familienschicksale voller Vertreibung, Leid, Trennung und Tod, sie lässt das Kriegsende mit dem barbarischen Einfall der russischen Armee nicht aus.

Am Anfang fühlt man sich angesichts der vielen Figuren noch leicht überfordert. Dieses Gefühl lichtet sich jedoch schnell. Die Haupt- und Nebencharaktere werden mit (Lebens-) Geschichten gefüllt, wodurch sie sich leichter einprägen lassen. Eins kommt zum anderen. Der Roman gleicht einem vielschichtigen, ineinandergreifenden Puzzlespiel. Es tauchen immer mehr Fakten, Vermutungen und Erinnerungen auf, die sich langsam zu stimmigen Bildern zusammensetzen. Nichts geschieht zufällig, alles hat Kalkül. Dabei geht es am Ende nicht mehr primär um das Massaker selbst, sondern vielmehr um die Konsequenzen, die sich daraus ergeben haben.

Trotz des grundernsten Themas ist es ein Genuss, diesen Roman zu lesen. Es ist Eva Menasse gelungen, zutiefst menschliche Charaktere zu erschaffen. Die wenigsten sind schwarz oder weiß, sondern haben viele Facetten. Auch die Täter haben ihre ureigenen Beweggründe für das (amoralische) Verhalten, sie kommen zu Wort, dürfen sich rechtfertigen. Der Leser darf ihnen in die Seele schauen, er ist bei wesentlichen Gesprächen und Ereignissen dabei, darf wie die zu Anfang zitierten Blüten und Gräser hören, sehen und empfinden. Die Autorin beschreibt ihr Dunkelblum teilweise auch mit trockenem, bitter-subtilem Humor, das Lachen darüber bleibt zumeist aber im Halse stecken. Es gibt eine wertende, allwissende Erzählinstanz, die die Figuren samt ihrer Geheimnisse kennt. Als Leser nimmt man großen Anteil an den Geschehnissen in turbulenten Zeiten. Man verurteilt die massive Wand aus Verdrängen, Lügen und Schweigen, freut sich über deren Aufweichung durch die engagierte junge Generation.

Die stilistische Raffinesse kann man gar nicht genug rühmen. Nicht nur inhaltlich ist dieser Roman so perfekt komponiert und strukturiert, dass sich die ausgelegten Fäden zum Ende finden und gekonnt verzahnen. Auch sprachlich ist Dunkelblum ein großer Wurf. Es gibt eindrückliche Sprachbilder, fantasievolle Wortkreationen und tiefgängige Formulierungen zu entdecken. Menasse ist eine Geschichtenerzählerin erster Güte, eine wahre Wortakrobatin. Der Roman ist in österreichischem Sprachduktus verfasst, teilweise auch mundartlich, immer zur jeweiligen Figur passend. Im Anhang findet man ein siebenseitiges Glossar der Austriazismen, das man jedoch nur vereinzelt wirklich braucht, vieles erschließt sich von selbst.

Für mich ist Dunkelblum ein 6-Sterne-Buch, dem ich riesigen Erfolg wünsche. Es setzt sich gekonnt mit der österreichischen Verdrängungsgeschichte auseinander, beleuchtet viele persönliche Schicksale und hat reale Vorbilder. Das Vergangene kontrastiert dabei eindrucksvoll mit der Gegenwartshandlung von 1989. Der Roman ist auf eine beeindruckende Weise hochkomplex und verträgt auch eine wiederholte Lektüre.

Ein Highlight des Jahres! Dringende Lese-Empfehlung!


 

RuLeka

Bekanntes Mitglied
30. Januar 2018
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Eine sehr treffende Rezension , die diesem komplexen Roman gerecht wird. In der Bewertung sind wir uns absolut einig.
 
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