Rezension (5/5*) zu Diese verdammte Hand von Octave Mirbeau.

Renie

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Buchinformationen und Rezensionen zu Diese verdammte Hand von Octave Mirbeau
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Ein Wahnsinnsbuch - im doppelten Sinne

Die Legende um van Goghs linkes Ohr regt seit jeher die Phantasien an. Wahr ist, dass sein linkes Ohr abgeschnitten wurde. Nur von wem? Einige behaupten, dass sein Kumpel Gauguin das Messer geführt hat. Gerne wird aber auch angenommen, dass Vincent sein Ohr in einem Anflug von geistiger Umnachtung selbst abgesäbelt hat. Letztere Theorie passt natürlich ganz hervorragend zu van Goghs wahnsinnigem Genie.

Octave Mirbeau, der van Gogh persönlich gekannt hat, erzählt in seinem Roman "Diese verdammte Hand" von einem Maler, der große Ähnlichkeit mit dem berühmten Künstler hat. Wie van Gogh kommt dieser gewaltsam zu Tode. Nur, dass bei ihm am Ende beide Ohren dran bleiben.

In diesem Roman gibt es - man glaubt es kaum - 3 Ich-Erzähler. Zunächst erfährt der Leser von einer anonymen Person, dass diese auf dem Weg zu einem früheren Freund ist: Georges, den er vor einigen Jahren kennengelernt, dann wieder aus den Augen verloren und nun von ihm einen Brief erhalten hat, der einem Hilfeschrei ähnelt. Denn Georges lebt in Abgeschiedenheit auf einer einsamen Bergspitze. Die Einsamkeit bekommt Georges nicht und schlägt ihm auf's Gemüt. Der anonyme Ich-Erzähler verbringt eine Nacht bei seinem Freund. George's Geisteszustand ähnelt dem eines Wahnsinnigen. Wie George an diesen trostlosen Ort gekommen ist, erfährt man durch dessen Aufzeichnungen, die er dem Freund zur Verfügung stellt.

"'... Dort oben ersticke ich, bin ich wie gelähmt, auf dem Kopf spüre ich die Bürde eines ganzen Berges lasten ... Es ist der Himmel, so schwer, so bleischwer! Und dann diese Wolken ... Du hast sie also noch nicht gesehen, diese Wolken? Sie sind leichenblaß, fratzenhaft verzerrt wie das Fieber ... wie der Tod!'" (S. 12)

Von diesem Moment an kommt der 2. Ich-Erzähler auf einer weiteren Handlungsebene ins Spiel: Georges, der in seinen Aufzeichnungen von seiner Kindheit erzählt, und wie er zu dem Menschen geworden ist, der er heute ist. Aufgewachsen in einem strengen Elternhaus, war es für ihn unmöglich, den Ansprüchen seiner Eltern gerecht zu werden. Auf Georges Misserfolge reagierte die Familie mit resigniertem Spott. Seine Familie hat wirklich alles dazu beigetragen, um aus ihn einen Verlierertypen zu machen. Nach dem Tod seiner Eltern, lernte Georges den jungen Maler Lucien kennen. Lucien war ein Besessener, nie zufrieden mit seiner Malerei und ständig auf der Suche nach dem ultimativen Pinselstrich. Mit Hilfe des charismatischen Lucien lernt Georges erstmalig zu leben und auf eigenen Beinen zu stehen. Die Beiden gehen nach Paris, wohnen im selben Mietshaus. Hier widmet sich Georges der Schriftstellerei, macht erste Erfahrungen in Liebesdingen und ist Lucien ein treuer Freund. Lucien verliert sich immer mehr in seiner Besessenheit. Besessenheit wird zum Wahnsinn, das Ende ist katastrophal.

Georges Tagebuch enthält Briefe von Lucien, die dieser ihm geschrieben hat, und der zum 3. Ich-Erzähler wird. Diese Briefe verdeutlichen, dass er an der Unfähigkeit seinen eigenen künstlerischen Ansprüchen gerecht zu werden, verzweifelte.
Kunst bedeutete für ihn "jenes auszudrücken, was man mit eigenen Augen gesehen hat, mit seinen Sinnen gespürt, mit seinem Hirn verstanden ..." (hat) (S. 87)
Seine vermeintliche Unfähigkeit, seine Eindrücke und Sinneswahrnehmungen künstlerisch wiederzugeben, stürzten ihn am Ende in den Wahnsinn.

"Ich wollte durch eine Verbindung von Linien und Formen all das ausdrücken, was ein Blinder sehen kann, verstehst Du, all das, was eine Stumme sagen kann, feinsinnig werden. Nun ... es ist nichts dabei herausgekommen! Nichts! Meine Hand hat sich geweigert, das zu malen, was ich empfand, was ich im Innern verstand, all die Gefühle, die meine Seele erfüllten, vor diesem firmamentalen Blick und diesem astralischen Mund." (S. 133)

Die Stimmung in diesem Roman ist geprägt von Melancholie. Der anfangs gewählte geheimnisvolle Schauplatz (Bergspitze) und der Sprachstil von Octave Mirbeau vermitteln eine spürbare Schwermut sowie Verzweiflung und faszinieren den Leser ähnlich wie die Werke eines Edgar Allan Poe.
Dieser Roman wird dadurch zu einem bedrückenden Leseerlebnis, von dem man jedoch nicht lassen möchte. Denn die Figuren, die hier agieren, strahlen eine Leidenschaft aus, die den Leser mitreißt. Somit wird aus diesem Klassiker, das dieses Buch nun mal ist, ein "Wahnsinnsbuch" im doppelten Sinn des Wortes ;-)

© Renie

 

Renie

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Das klingt sehr interessant.
Die Sache mit dem Ohr kann man auch in "Vorher und Nachher" lesen.
Gauguins Sicht ist allerdings mit Vorsicht zu genießen, weil man nicht weiß, wo Gauguins Wirklichkeit beginnt...
Gehen wir mal davon aus, dass beide sturzbetrunken waren und sich nicht mehr richtig erinnern konnten ;) Ein interessantes Buch, das du hier ansprichst @Börgdahl . Ich wusste gar nicht, dass Gauguin autobiographisch unterwegs war.
 

Börgdahl

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Gauguin hat gemalt, aber auch immer viel geschrieben, kommentiert, diskutiert...
"Vorher und Nachher" wurde nach seinem Tod 1903 als lose Blättersammlung gefunden und wäre vielleicht vernichtet worden (wie alles was dieser Unmensch in seiner Hütte aufbewahrt hat).
Oder versteigert. Es gibt einen Bericht über eine Auktion bei der es Malereibedarf zu kaufen gab. Aber ich hole zu sehr aus.
Was ich noch empfehlen kann, sind Gauguins Briefe aus der Südsee, die für mich eine wichtige Quelle waren.
Dies stammt von seinem Sohn, der ihn eigentlich nicht richtig gekannt haben konnte. Pola Gauguin hat aufgeschrieben, was er über seinen Vater gehört hat.
 
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