Rezension Rezension (5/5*) zu Die Verlassenen: Roman von Matthias Jügler.

Barbara62

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19. März 2020
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Baden-Württemberg
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Elternschicksal und Kinderleid


"Kein Mensch ist vor den Momenten sicher, in denen sich alles von Grund auf ändert und das eigene Leben plötzlich in anderen Bahnen verläuft als erhofft." (S. 27)

Mit den Worten „Mach’s gut, Junge“ (S. 10) lässt Thomas Wagner im Juni 1994 seinen 13-jährigen Sohn Johannes bei der Großmutter in Halle zurück. Schon einmal, im Mai 1986, beim plötzlichen Tod seiner Mutter Annegret, wurde auf die gleiche Art geschwiegen. Melancholie zog damals in den Zwei-Männer-Haushalt ein, in dem das Kind Johannes gegen die Traurigkeit des Vaters ankämpfte. Nur dessen bester Freund, Wolfgang Köhler, brachte Licht und Verständnis in diese dunkle Zeit. Er half, als Johannes in bester Absicht Papierstapel seines Vaters entsorgen wollte, und beim Umzug im Februar 1988, als sie endgültig verlorengingen. Auch Wolfgang verschwand Mitte 1992 unvermittelt, wieder ohne Erklärung.

Die Fürsorge der Großmutter bewahrt Johannes vor absoluter Einsamkeit, aber mit ihrem Tod im März 2000 scheint die letzte mögliche Informationsquelle zu versiegen. Bis Johannes zufällig einen dichtbeschriebenen zweiseitigen Brief aus Norwegen, adressiert an den Vater, abgeschickt kurz vor dessen Verschwinden, findet:

"… kaum, dass ich ihn gelesen hatte, wusste ich, dass dies der eine Moment war, der alles änderte, nicht nur meine Zukunft, sondern vor allem meine Vergangenheit beziehungsweise das, was ich dafür gehalten hatte." (S. 27/28)

Licht ins Dunkel bringen
Seine Freundin Katja ist schwanger, als Johannes auf der Suche nach den Leerstellen seines Lebens zu einem entlegenen Ort in Norwegen aufbricht. Am Ende seiner Reise muss er sich entscheiden, ob er selbst für andere den Moment der totalen Veränderung bringen will.

Jahre später beginnt Johannes mit der Niederschrift der Ereignisse. Bald wird er seinem 14-jährigen Sohn Jasper, den er schon kurz nach seiner Geburt verlassen hat, Fragen beantworten müssen:

"An einem dieser Tage, es mag fünf oder sechs Jahre her sein, beschloss ich, alles aufzuschreiben, was mich und meine Vergangenheit betrifft. Davon hatte ich mir Klarheit erhofft. Aber schon nach den ersten Seiten wusste ich, dass viele meiner Fragen ohne Antwort bleiben würden. Ich schrieb dennoch weiter, denn bald schon merkte ich, dass jede Erinnerung, die ich heraufbeschwor, dazu beitrug, das körnige Bild meiner Vergangenheit zu schärfen." (S. 164)

Der lange Arm der Diktatur
Matthias Jügler, geboren 1984 in Halle, erzählt in "Die Verlassenen" eine fiktionale, im Kern jedoch auf wahren Geschehnissen beruhende Geschichte, wie es sie - der Plural im Buchtitel deutet dies an - zahlreich gibt. Der Ich-Erzähler blickt auf sein Leben, in dem vor und nach der Wende zu viel geschwiegen wurde. Über 30 Jahre später wirken die Verbrechen der Stasi weiter, selbst in einer Generation, die die DDR kaum bewusst erlebte. Das Kind Johannes reagierte mit Überangepasstheit, der Jugendliche mit Zwangs- und Wahrnehmungsstörungen, Müdigkeits- und Schmerzsyndrom, der Erwachsene ist bindungsunfähig, einsam, unsicher, ambitions- und schlaflos.

Eine bewegende Lektüre
Schweigen, Unrecht, Lüge, Verrat, Verlassenwerden, Trauer, Vergebung und Einsamkeit sind die Themen dieses nur 170 Seiten umfassenden Romans, dessen Zentrum nicht erzählt, sondern anhand von Fotos fingierter Stasi-Akten auf 14 Seiten dargestellt ist. Gerade weil das melancholisch-schmerzhafte Buch extrem verdichtet und ohne Selbstmitleid ist, weil Erzählstil und Sprachmelodie mich an Per Petterson denken lassen und die Fragmente sich nicht chronologisch aneinanderreihen, hat es mich so sehr beeindruckt.


 
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