Rezension (5/5*) zu Die Überlebenden: Roman von Alex Schulman

Barbara62

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Baden-Württemberg
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Lebenslange Sehnsucht nach Aufmerksamkeit und Liebe

Alex Schulman, geboren 1976 in Schweden, ist in seiner Heimat als Journalist, Autor mehrerer autobiografischer Bücher über seine Familie, Blogger, Podcaster und aus Fernsehen und Radio sehr populär. Sein Romandebüt "Die Überlebenden" war in seinem Heimatland ein großer Erfolg, wobei schwedische Leser Teile seiner Familiengeschichte in dieser fiktionalen Erzählung wiederfinden.

Drei Brüder
Zu Beginn eine filmreife Szene: Drei Männer in schwarzen Anzügen und Krawatten sitzen in einer Juninacht auf der Steintreppe vor einem abgelegenen, verwitterten roten Sommerhaus am See und halten sich weinend im Arm. Neben ihnen steht die Urne mit der Asche ihrer Mutter, die sie nach deren letztem Willen im See verstreuen sollen. Benjamin, der mittlere der Brüder, hat die Polizei und einen Krankenwagen gerufen, denn kurz zuvor hätten sich Nils, der ältere, und Pierre, der jüngste, fast totgeschlagen. Was ist geschehen?

"Was sich hier auf der Steintreppe abspielt, das Weinen der drei Brüder, die geschwollenen Gesichter und all das Blut, ist nur der letzte Ring auf dem Wasser, der äußerste, der am weitesten vom Einschlagpunkt entfernt ist." (S. 13)

Eine außergewöhnliche Struktur
Alex Schulman erzählt den Roman konsequent aus Benjamins Sicht. In zwei Teilen, untergliedert in insgesamt 24 Kapitel, wechseln sich zwei Zeitebenen ab. In der Gegenwartsebene wird der Tag der Urnenbeisetzung im Zweistundenrhythmus rückwärts erzählt. Dazwischen gibt es Episoden aus der Kindheit, später aus dem jugendlichen und dem Erwachsenenleben der Brüder, durch Schlüsselwörter verzahnt. Beide Ebenen nähern sich kontinuierlich an, bis sie zuletzt verschmelzen.

Bei den Erlebnissen im ersten Teil aus dem letzten Sommer am See sind die Brüder dreizehn, neun und sieben Jahre alt. Die idyllische Umgebung steht in diametralem Kontrast zum überwiegend düsteren Alltag einer dysfunktionalen Familie, in der die Kinder nur selten die ersehnte Aufmerksamkeit und Liebe der Eltern erhalten. Vom Alkohol vernebelt demonstrieren die Eltern meist Desinteresse, sind launisch und unberechenbar, verhängen sadistische Strafen und riskieren leichtfertig das Leben ihrer Kinder. Krassestes Beispiel dafür ist ein vom Vater ausgerufener Schwimmwettbewerb, bei dem die Brüder fast ertrinken, die Eltern sich jedoch inzwischen ins Haus zurückgezogen und die drei vergessen haben.

Unterschiedliche Strategien
Benjamin ist der sensibelste unter den Brüdern, der Familienseismograf, der die Stimmungen präzise auslotet und sogar vorhersieht. Sein erwachsenes Leben hat er "in einem fortlaufenden Stillstand verbracht" (S. 31). Nils, begabt und Hoffnungsträger der Eltern, zieht sich so weit als möglich in seine eigene Welt zurück. Pierre wird mit den Jahren brutal und aggressiv nach außen, behält aber wie die anderen einen weichen, verletzlichen Kern.

Das fehlende Puzzleteil
Alex Schulman geht in "Die Überlebenden" den Fragen nach, wie es zur Entfremdung der Brüder kommen konnte und was das Leben in einer dysfunktionalen, von Schweigen bestimmten Familie auslöst, emotional und äußerlich verarmt, "in einem Oberklassenhaushalt aufgewachsen, doch unterhalb des Existenzminimus" (S. 235). Selten hat mich ein Roman auf den letzten Seiten derart überrascht wie dieser, obwohl ich beim Lesen von Beginn an eine unerklärliche Unruhe verspürte. Erst ganz zum Schluss wurde mir klar, dass ein fehlendes Puzzleteil dafür verantwortlich war.

Diese genial angelegte Wendung, die gekonnte Verzahnung der Zeitebenen, die erschütternden Kindheitserlebnisse und die stark verdichtete, mit beklemmenden Bildern unterlegte Erzählweise werden mir dauerhaft im Gedächtnis bleiben. Ich freue mich auf weitere Romane von Alex Schulman!

 
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Wandablue

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Eigentlich wird ja nichts erklärt, nicht wie es zu der Dysfunktikonalität gekommen ist und auch nicht, wie es zu der Entfremdung der Geschwister gekommen ist. Einiges kann man erraten, aber vieles bleibt auch im Ungefähren.
 

Die Häsin

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Rhönrand bei Fulda
Ich fand es das ganze Buch hindurch merkwürdig, dass kaum die Rede war von dem Lebensweg der Brüder als Erwachsene, die Frage nach Beziehungen, nach Berufstätigkeit blieb unbeantwortet, abgesehen von der perückentragenden Freundin von Nils ... man hat den Eindruck, dass alle drei abgekapselt weiterleben, fürs Leben geschädigt durch ihre Erlebnisse. Das ist ein Punkt, der bei mir die oben erwähnte dumpfe Unruhe beim Lesen ausgelöst hat ... und das wurde auch durch die Schlusswendung (die ich überflüssig und ärgerlich finde) nicht aufgelöst. Ich finde das Buch wirklich toll, abgesehen von diesem einen Punkt, und aus meiner Sicht ist es kein Makel, dass hier Leerstellen und offene Fragen bleiben, über die man nachdenken kann.
 
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Barbara62

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Eigentlich wird ja nichts erklärt, nicht wie es zu der Dysfunktikonalität gekommen ist und auch nicht, wie es zu der Entfremdung der Geschwister gekommen ist. Einiges kann man erraten, aber vieles bleibt auch im Ungefähren.
Ich fand das gerade schön, weil die Vergangenheit ja aus der Sicht des Kindes gesehen wird, für das es ja auch nicht erklärlich ist. Im Gegensatz zu "Shuggie Bain", das mir fast schon übererzählt war und keinerlei Raum für eigene Gedanken ließ, bleibt hier sehr viel zum Nachdenken und Spekulieren.

Als ich im August an einem Livechat mit Alex Schulman teilgenommen habe, wurde mir klar, dass auch er bis heute keine wirkliche Erklärung für die Alkoholsucht der Mutter hat. Muss es denn das immer geben?
 
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Ich fand den Dreh am Ende im Gegensatz zu euch toll, weil mich das Thema Verdrängung und Weiterleben mit einer Schuld spätestens seit Julien Barnes "Vom Ende einer Geschichte" interessiert. Nachdem ich in meiner Familie eine solche unglaubliche Verdrängung aus nächster Nähe erlebt habe (und erlebe), fasziniert es mich geradezu. Es ist für mich weder reißerisch noch unglaubhaft, sondern ein zutiefst erschütterndes Phänomen.

Dieser Teil der Geschichte ist übrigens fiktional und war im ursprünglichen Plan nicht enthalten.
 

Die Häsin

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Als ich im August an einem Livechat mit Alex Schulman teilgenommen habe, wurde mir klar, dass auch er bis heute keine wirkliche Erklärung für die Alkoholsucht der Mutter hat. Muss es denn das immer geben?
Soweit ich weiß, gibt es eine gewisse Veranlagung zu Suchtverhalten, die sogar vererbbar ist. Mit einer solchen Disposition kann man sich unkontrolliertes Trinken auch einfach angewöhnen, ohne dass irgendein Defizit im Leben als "Grund" dafür vorhanden sein muss. Im Fall der Eltern kommt noch dazu, dass das Trinken offenbar ihre einzige Gemeinsamkeit ist; jedenfalls sehe ich sonst keine gemeinsamen Interessen oder Unternehmungen. Sie scheinen einander nicht mal besonders zu mögen. Vielleicht trinken sie, um einander schönzutrinken.
"Übererzählt", schönes Wort übrigens, muss ich mir merken!
 

kingofmusic

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Ich fand den Dreh am Ende im Gegensatz zu euch toll, weil mich das Thema Verdrängung und Weiterleben mit einer Schuld spätestens seit Julien Barnes "Vom Ende einer Geschichte" interessiert. Nachdem ich in meiner Familie eine solche unglaubliche Verdrängung aus nächster Nähe erlebt habe (und erlebe), fasziniert es mich geradezu. Es ist für mich weder reißerisch noch unglaubhaft, sondern ein zutiefst erschütterndes Phänomen.

Dieser Teil der Geschichte ist übrigens fiktional und war im ursprünglichen Plan nicht enthalten.
Wenn Du an so etwas "näher dran" bist, ist es klar, dass dir das Ende besser gefällt...
 
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"Übererzählt", schönes Wort übrigens, muss ich mir merken!
Finde ich genau so. Ist notiert. Genau wie Narrischkeit. Und pitoyabel.
Nein, Barbara, es muss nicht immer alles auserzählt sein und ich hab eigentlich nichts vermisst. Doch statt des Drehs am Ende (für mich überflüssig wie ein Kropf und ich glaube weniger an die Theorie der Verdrängung, die der Autor zeigen wollte, sondern mehr an die Idee der Verkaufbarkeit) hätte ich eben mehr Wert auf mehr Details gelegt.
 
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Finde ich genau so. Ist notiert. Genau wie Narrischkeit. Und pitoyabel.
"pitoyabel", das muss ich mir merken, das ist ja herrlich!
Erinnert mich an "Schoflesse der Gesinnung", was ich mal bei Dr. Erika Fuchs gelesen habe, d.h. in einem Donald-Comic.
@Wandablue , kennst du auch "präpotent"? Das ist auch so wunderbar understatement.
 
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Schmutzige Worte muss ich nachschlagen.
  1. 1.​
    bildungssprachlich
    übermächtig​
  2. 2.​
    österreichisch abwertend
    aufdringlich, frech, überheblich​
Hm. Klar. Öisch.