Rezension (5/5*) zu Die tristen Tage von Coney Island: Geschichten von Crane

Literaturhexle

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2. April 2017
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Vielseitiger und themenreicher Erzählband

Der Autor Stephen Crane wurde nur 28 Jahre alt, er starb am 5. Juni 1900 im deutschen Kurbad Badenweiler. Über seine letzten Lebenstage hat Andreas Kollender mit „Mr. Crane“ im vergangenen Jahr einen beeindruckenden Roman vorgelegt, der ebenfalls bei Pendragon erschienen ist und auf das weitere Werk Cranes neugierig macht.

Dieser Erzählband versammelt dreizehn seiner wichtigsten Geschichten mit höchst unterschiedlicher Thematik. Allen gemein ist die Liebe zu Detail. Crane versteht es, seine Schauplätze für den Leser sehr bildhaft zu beschreiben, er ist ein guter Beobachter, seine Figuren sind stimmig und der jeweiligen Situation angepasst. Jede Erzählung hat eine ihre eigene Atmosphäre. Manche ist nachdenklich bis philosophisch, vielen haftet eine gewisse Melancholie an, andere wirken wie eine Parodie mit bissigen Dialogen, überzeichneten Charakteren oder komischen Elementen. Manches wirkt absurd, gruselig, nostalgisch oder zynisch. Es ist ein Vergnügen, sich immer wieder auf die komplett neuen Szenarien einzulassen, in die der Autor mit wenigen Sätze gekonnt einführt. Crane erzählt seiner Zeit gemäß. Der Leser kommt mit dem schussbereiten Wilden Westen in Berührung, mit einem brennenden Theater. In „Männer im Sturm“ geraten Obdachlose in den Fokus. Auch deren Welt wird sehr anschaulich geschildert, man darf durchaus Sozialkritik heraushören.

Den Naturgewalten gibt Crane immer wieder Raum in seinen Geschichten: Die Faszination ausbrechender Feuer und Stürme oder der Unberechenbarkeit des Meeres, denen die Protagonisten ausgeliefert sind, widmet er sich wiederholt. Nicht zu Unrecht, denn Cranes Stärke liegt eindeutig in der Inszenierung der Erbarmungslosigkeit losgelassener Gewalten, er beherrscht das Spiel mit Licht und Schatten, lässt seine Handlung wirkungsvoll von Naturereignissen begleiten, die Dramatik ausstrahlen und Symbolkraft besitzen.

Cranes Protagonisten finden sich überwiegend in einer derben, ihrer Zeit geschuldeten Männerwelt wieder, was besonders für die autobiografischen Erzählungen gilt. Im Januar 1897 geriet Crane nämlich selbst auf einem Frachtschiff in Seenot, von dem er sich zusammen mit drei anderen Männern auf einem kleinen Dinghi retten konnte. Die Männer trieben 60 Stunden einsam auf hoher See. Die Emotionen und Stimmungen, schwankend zwischen Verlorenheit, Angst und Hoffnung, werden grandios eingefangen, die innige Kameradschaft der Schicksalsgenossen wird mit immenser Intensität fühlbar gemacht – und immer wieder das weite, unberechenbare Meer… Großes Kino.

Die titelgebende Erzählung lässt zwei Besucher während der Nachsaison über das am Meer gelegene Vergnügungsviertel Coney Island schlendern. Sie wälzen philosophische Gedanken über die Vergänglichkeit des Sommers, über die Ignoranz den Schönheiten der Welt gegenüber, über Himmel und Hölle - gewürzt mit einer guten Portion Selbstironie.

„Das blaue Hotel“ soll die Lieblingserzählung Ernest Hemingways gewesen sein. Sie vereinigt parodistische, gruselige und dramaturgische Elemente, stellt die großen Fragen nach Schuld und Sühne sowie der Rolle des Einzelnen in der Gesamtbewertung – fantastisch.

Manche Erzählung handelt vom Krieg, auch hier wurden zweifellos Cranes eigene Front-Erfahrungen als Kriegsberichterstatter verarbeitet. Es ergeben sich paradoxe Szenen, die die Sinnlosigkeit des Gemetzels unterstreichen und hinterfragen.

Crane erzählt auf hohem Niveau. Er verdichtet, bringt auf den Punkt und nimmt Stellung. Er ist ein Ausnahmetalent seiner Zeit. Bereits „Die rote Tapferkeitsmedaille“ hat mich begeistert. Hier beweist er sein Talent in der kurzen Form erneut, sein Themenreichtum und seine Vielseitigkeit dürften Ihresgleichen suchen. Das Hardcover wurde gewohnt mit Liebe zum Detail gestaltet und passt wunderbar zu den anderen bei Pendragon erschienenen Crane-Titeln. Das fachkundige Nachwort Wolfgang Hochbrucks ordnet die Erzählungen in Leben und Werk des Autors ein.

Große Lese-Empfehlung!