Rezension (5/5*) zu Die Tochter: Roman von Kim Hye-jin

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Die Tochter: Roman von Kim Hye-jin
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Nicht nur ein Familienkonflikt

Südkorea ist ein weit entferntes Land, nicht nur geografisch, sondern auch von den gesellschaftlichen Normen her gesehen. Homosexualität ist dort zwar nur noch vor den Militärgerichten strafbar, ein diesbezügliches gesetzliches Diskriminierungsverbot besteht jedoch nicht. So wundert es kaum, dass gerade die ältere Generation Schwierigkeiten hat, gleichgeschlechtliche Liebe anzuerkennen, wenn doch Familie und Kinder als Lebensziel gelten. Erst im vergangenen Jahr habe ich den Roman „Kim Jiyoung, geboren 1982“ mit Begeisterung gelesen, der von den erlittenen Diskriminierungen einer jungen Frau in Gesellschaft und Beruf erzählt, nun also „Die Tochter“, die andere Defizite im asiatischen Land thematisiert.

Erzählt wird der gesamte Roman aus der Perspektive einer namenlosen verwitweten Mutter, die gegen geringe Bezahlung in einem Altersheim arbeitet. Das Geld ist knapp, sie ist gezwungen, in ihrem maroden Haus kleine Wohnungen zu unterzuvermieten. Obwohl erst Anfang 60 scheint sie sich uralt und verbraucht zu fühlen, wenn sie ihr Haus mit sich selbst gleichsetzt: „Eines der Häuser, die sich wie verfaulte Zähne dicht in einer engen Gasse am Stadtrand aneinanderreihen. Ein baufälliges zweistöckiges Haus, seiner Besitzerin ganz ähnlich, vornübergebeugt, mit abgenutzten Gelenken und mürben Knochen.“ S. 9

Die Mutter ist empört über ihre erwachsene Tochter, die sich aus ihrer Sicht den gängigen sozialen Idealen einer Heirat mit Kindern widersetzt, um stattdessen mit einer Frau zusammenzuleben. Sämtliche Läuterungsversuche sind gescheitert, die Mutter kann das Liebesleben der Tochter nicht akzeptieren. Die Situation droht zu eskalieren, als Tochter Green aufgrund akuter Geldnot gemeinsam mit ihrer Partnerin Rain in die beengte Wohnung der Mutter einzieht.

Ein weiterer Handlungsstrang führt uns in ein koreanisches Altersheim, in dem sich die Mutter um die betagte Greisin Tsen zu kümmern hat. Hilfs- und Pflegemittel sind knapp, es herrscht das Diktat der Gewinnmaximierung. Im Heim bringt lediglich die Mutter ein großes Maß an Mitmenschlichkeit auf, indem sie versucht, das Beste für Tsen zu erreichen und ihr ein Dasein in Würde zu ermöglichen. Sie empfindet Achtung für die alte Frau, die als erfolgreiche Journalistin die Welt bereiste, allerdings kinderlos blieb und das ganze Jahr über keinen Besuch bekommt. „Eine Frau, die zu lange gelebt hat. Eine Frau mit Erinnerungen, die irgendwo versickern. Eine Frau, die die Geschlechtergrenzen hinter sich gelassen hat und nur noch Mensch ist, wie bei ihrer Geburt vor langer Zeit.“ S. 16

Zwangsläufig reflektiert die Mutter über ihr eigenes Leben, aber auch über das der alten, einsamen Frau. Sie überträgt deren Kinderlosigkeit mit ihrem unabhängigen freien Leben auf die Tochter, die sich für die Mutter völlig unverständlich gegen Glück, Erfüllung und materielle Absicherung entschieden hat. Die Mutter kann Rain nicht akzeptieren, obwohl jene sich in der neuen Hausgemeinschaft äußerst freundlich und zuvorkommend verhält. In der weiteren Handlung wird deutlich, dass die Homophobie keineswegs nur ein Problem der Mutter ist, sondern ein gesamtgesellschaftliches, verbreitetes Phänomen. Homosexualität wird keineswegs anerkannt, im Gegenteil haben Schwule und Lesben mit sozialer und sogar beruflicher Ausgrenzung zu rechnen – eine Ungerechtigkeit, die empörend ist!

Im Verlauf des Romans lernt man eine ambivalente Mutter kennen, die sich aufopferungsvoll um die Bedürfnisse der alten Frau kümmert, für die eigene zweifellos geliebte Tochter aber wenig Empathie entwickeln kann, nur weil jene nicht nach ihren Vorstellungen lebt. Die Tochter indessen ist kämpferisch, sie konfrontiert nicht nur die Mutter mit ihren überkommenen Ansichten, sondern auch ihren Arbeitgeber – mit Konsequenzen.

Der mütterliche Gedankenstrom liest sich fesselnd. Die Sprache wirkt kühl und distanziert, was typisch für die koreanische Literatur zu sein scheint. Dennoch nimmt einen der Text gefangen, die Reflexionen der Mutter zeugen von Weisheit und Erfahrung, viele Sätze sind es wert, herausgeschrieben zu werden. Der Unterschied zwischen der Älteren, die sich meist anpasst und schweigt, und der Jüngeren, die sich Ungerechtigkeiten vehement entgegenstellt, wird an vielen Beispielen deutlich. Wie es der asiatischen Kultur entspricht, bleiben die zwischenmenschlichen Konflikte lange unter der Oberfläche, bevor sie offen ausgetragen werden. Dramatische äußere Umstände und Entwicklungen in beiden Handlungssträngen sorgen für Spannung. Man kann zum Glück nicht alles auf die Zustände in Deutschland übertragen, das sich in den vergangenen Jahrzehnten deutlich weiterentwickelt hat. „Die Tochter“ ist ein intensiver Roman über den Umgang mit dem Alter, Humanität, unterschiedliche Lebensformen, Akzeptanz und Toleranz, über Diskriminierung und soziale Kälte. Er stimmt nachdenklich, ist in seiner Stimmung aber keineswegs trostlos. Die Autorin gibt ihren vielschichtigen Charakteren Entwicklungspotential an die Hand, das bis zum Schluss durchgängig realistisch und nachvollziehbar bleibt.

Der Roman ist ein tiefgehendes Stück Literatur, das uns Einblick in eine fremde Kultur ermöglicht, Defizite klar ausleuchtet und Verbesserungspotentiale aufzeigt. Er eignet sich perfekt für Lesekreise und Diskussionsrunden. Die Familiengeschichte fesselt, die Sprache fasziniert (hier muss unbedingt die gelungene Übersetzung von Ki-Hyang Lee gelobt werden). Ein Roman, der nachhallt und dem ich viele deutsche Leser wünsche. Große Lese-Empfehlung!

von: Andreas Pflüger
von: Johannes Laubmeier
von: Galsan Tschinag
 

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