Rezension Rezension (5/5*) zu Die Sehnsucht des Vorlesers: Roman von Jean-Paul Didierlaurent.

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14. Januar 2020
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Graz
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„Figurenzeichnung mittels Intertextualität“

Keine normale Rezension, sondern ein Beitrag zum Thema „Figurenzeichnung mittels Intertextualität“, denn ich vermute, dass die Art der Figurenzeichnung bei Didierlaurent zum Phänomen der Intertextualität gehört. Mit Intertextualität meine ich hier: Figurenzeichnung durch Textkohärenz, die die Leser*innen selbst herstellen.
Ich schließe mich darin der Meinung von Literaturwissenschaftlerinnen an, die zum Thema „lesende“ Figuren schreiben, dass die Wahl der gefundenen Textstellen alles andere als zufällig sei. Der grausame Vater stehe für Guylains Vater. (Sehnsucht des Vorlesers, S. 13+15 = 125) Das „Text-Findelkind“, das danach kommt, erzählt aus meiner Sicht weiter, wie der Vater so grausam werden konnte. Er könnte jener Josef gewesen sein, der sich im Granatenhagel am Stamm der Birke festgehalten und ihn in seiner Angst mit Tränen und Urin benetzt hat. (Sehnsucht des Vorlesers, S. 17 = 51)
Insofern kann man vielleicht sagen, dass ein der Intertextualität vergleichbares Phänomen zwischen Menschen wirksam ist. Was den Vater emotional geprägt hat, erscheint bei genauerem Hinschauen, wie ein Text in einem Palimpsest, im Leben seines Sohnes Guylain. Unsichtbar, aber wirksam. Denn Rouget de Lisle, dem Goldfisch, ergeht es wie dem Hasen: er wird durch einen neuen ersetzt.
Auch das Element der Fürsorge hat eine Funktion, die Guylains Entwicklung nachzeichnet. Guylain hilft seinem Vorgänger Guiseppe Carminetti, seine Beine wieder zu finden; das gelingt ihm auf skurrile Art. Mit solchen Weisen der Solidarität mit anderen gelingt es Guylain schließlich, sein eigenes Leben und das von Julie zu verändern, indem er auf ihre Sehnsucht nach Veränderung (der Anzahl der Kacheln auf ihrem Arbeitsplatz) mit einem Brief und einer Kachel antwortet. Diese Idee fand ich beim Lesen genial berührend und wunderschön.