Rezension Rezension (5/5*) zu Die rote Tapferkeitsmedaille: Roman von Stephen Crane.

Literaturhexle

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Buchinformationen und Rezensionen zu Die rote Tapferkeitsmedaille: Roman von  Stephen Crane
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Krieg zum ersten Mal aus der Sicht des einfachen Rekruten

Stephen Crane wurde nur 28 Jahre alt. Er starb im Jahre 1900 an Tuberkulose. Obwohl so jung an Jahren, hat er mit „Die rote Tapferkeitsmedaille“ einen bedeutungsvollen Roman hinterlassen, der noch heute als Pflichtlektüre in amerikanischen Schulen gelesen wird. Er gilt als Meilenstein und Vorbild für andere Werke dieser Art (z.B. auch für Remarques „Im Westen nichts Neues“), weil Crane zum ersten Mal die Gedanken, Gefühle und Ängste des einfachen Soldaten in den Mittelpunkt stellt. Die Handlung ist zwar im Sezessionskrieg angesiedelt, genau genommen geht es um wenige Tage im Dezember 1861 in der Schlacht um Fredericksburg in Virginia, Ort und Zeit werden jedoch an keiner Stelle genannt. Es geht um den Krieg als solchen, um das Austauschbare, um das, was jeder Krieg mit dem Einzelnen macht. Diese Darstellung gelingt Crane sehr glaubwürdig. Konsequent nimmt er die Perspektive seines Protagonisten Henry Fleming ein, der im Text meistens nur „der Junge“ genannt wird. Jener hatte entgegen dem Rat seiner Mutter im Alter von 17 Jahren bei der Armee angeheuert: „Er hatte von Gewaltmärschen gelesen, von Belagerungen und dramatischen Konfrontationen und wünschte sich nichts mehr, als Teil dieser dramatischen Kämpfe zu sein.“ (S. 14)

Sehr schnell muss Henry feststellen, dass die Realität mit Heldenmythen wenig zu tun hat. Seit Wochen hängt sein Regiment fest, hat keine Feindberührung. Man schlägt die Zeit tot und wartet auf den ersehnten Marschbefehl. Als anonymes Rädchen plagen ihn Gedanken und Selbstzweifel, auch ob er tapfer genug sein wird, sich dem Feind entgegen zu stellen, wenn es gefordert ist. Henry ist ein guter Beobachter mit einem Blick für das Paradoxe des Krieges, aber auch für die Schönheiten der Natur. In der Beschreibung des Kriegsgeschehens streut er fantastische, beklemmende Vergleiche mit ein, die seinem jugendlichen Naturell geschuldet sein dürften: „Als er zu den rot glühenden Augen auf dem anderen Ufer schaute, schienen sie ständig größer zu werden, um schließlich einer Phalanx angsteinflößender Drachen Platz zu machen.“ (S.30) oder „Im nächsten Moment setzte sich das Regiment in Bewegung und marschierte los, einem vielbeinigen Fabelwesen nicht unähnlich. Kalter Tau lag in der Luft. Das nasse Gras unter ihren Füßen raschelte wie Seide.“ (S.31) Diese bild- und metaphernreiche Sprache hat mich fasziniert und gefesselt. Sie verbindet Schönheit mit Gefahr, Brutalität und Tod. Es gibt Kugeln, die beim Aufprall exotische Kriegsblumen hervorbringen, Kanonen, die knarzen und grunzen wie muskulöse Männer, oder den Krieg als gefräßige, alles zermalmende Maschine.

Henry durchläuft im Verlauf dieser Tage mehrere Stadien. Er wirft sich in der Schlacht tapfer dem Feind entgegen, er schießt auf alles, was sich schemenhaft bewegt, er tut, was von ihm verlangt wird. Männer sterben wie die Fliegen. Das Kriegsgeschehen scheint keinerlei Koordination zu kennen. Man prescht voran, der Feind zieht sich zurück. Im nächsten Moment ist die eigene Kompanie in der Defensive, man bangt um das nackte Leben. In einem Moment der Schwäche flüchtet Henry. Ständig resümiert er seine Tat, Rechtfertigungen suchend wird er durch den Wald getrieben, trifft auf Ströme Verwundeter, die bleibenden Eindruck hinterlassen, schließlich wird er wie durch Zufall wieder in sein Regiment gespült.

Diese anarchischen Zustände wirken sich stark auf Henrys Gemütsverfassung aus. Er schwankt zwischen Extremen. Teilweise kann man seinen wirren, großmannssüchtigen Fantasien nur schwer folgen, man ist gefordert als Leser, man muss sich dicht in diese unglaubliche Kriegswelt hineindenken, in der der Einzelne mit seinem Leben nichts gilt, sondern nur Kanonenfutter darstellt und funktionieren muss. Die komplizierten Gefühlslagen, das Schwanken zwischen dem Wunsch, sich als Held zu beweisen und der Angst, zu versagen und die Flucht anzutreten, wirken in hohem Maß authentisch. Ehre, Mut, und Tapferkeit sind die männlichen Attribute, in deren Sinn Henry erzogen wurde. Sie auf dem Schlachtfeld unter Beweis stellen zu müssen, kostet letzte Reserven. Henry ist kein Sympathieträger. Er hat Ecken und Kanten. Das macht ihn als Figur glaubwürdig.

Crane lässt seinen Protagonisten überleben, das Ende verheißt Hoffnung: „Doch nun wandte er sich mit der Sehnsucht des Liebenden harmonischeren Gefilden zu, der Vision eines friedvollen Himmels, einer grünen Wiese, eines kühlen Bachs, eines Lebens im andauernden Frieden.“ (S. 228) Es ist Cranes Verdienst, dass die 228 Seiten Kriegsgeschehen rund um den 17-jährigen desertierten Helden zu keinem Zeitpunkt langweilig werden. Man schließt den Roman mit dem befriedigenden Gefühl, ein wichtiges Stück amerikanischer sowie universell gültiger Kriegsliteratur gelesen zu haben.

Der Verlag hat dem Roman die Erzählung „Der Veteran“ hinzugefügt, in der es ein Wiedersehen mit dem gealterten Henry Fleming gibt, der seine Lebenserfahrung an den Enkel weiterzureichen versucht. Im Anschluss daran ordnet Thomas F. Schneider das Werk historisch in seinen Kontext ein und schließt eine höchst interessante Biografie Stephan Cranes an, die Einblicke in dessen unstetes Leben und Werk bietet. Alle drei Teile ergeben zusammen ein komplettes Ganzes – ein inhaltlich und haptisch sehr ansprechendes Buch. Unbedingt lesen!



 

Literaturhexle

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Ich bin versucht, zu sagen "keinesfalls lesen", *grins* - aber du wirst schon recht haben. Irgendwie.
Ich denke, du hast schon recht, mit der Aussage, dass du keine Toten (Autoren) magst. Bei Klassikern musst du sehr vorsichtig auswählen und in die Leseprobe schauen.
Ich liebe diese "verschwurbelte" Sprache einfach!
 
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30. Oktober 2018
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Hast du doch noch auf 5 aufgewertet? *g* :p Ich war mir erst nicht sicher, ob ich auch "nur" 4 gebe, aber mit etwas Abstand tendiere ich jetzt auch mehr zur 5.
 
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