Rezension (5/5*) zu Die Nachricht von Doris Knecht

ulrikerabe

Bekanntes Mitglied
14. August 2017
3.050
7.678
49
Wien
www.facebook.com
Selbst schuld?

Ruth Ziegler ist seit drei Jahren verwitwet. Noch hat sie nicht ganz mit dem Verlust ihrer Trauer und ihrer Trauer abgeschlossen. Aber sie hat Familie, zwei Söhne und eine Steiftochter, Freunde um sich. Als Fernsehjournalistin und Verfasserin von Drehbüchern ist sie auch beruflich sattelfest. Sie ist sogar schon bereit eine neue Beziehung, zumindest eine Affäre einzugehen. Kurzum, Ruth ist eine selbständige, emanzipierte Frau, mitten im Leben.

Bis sie eines Tages über Facebook eine anonyme Nachricht erhält: „Weißt du eigentlich von der Affäre deines prächtigen Ehemannes?“

Ja, Ruth wusste davon, hat sich damit arrangiert. Doch es bleibt nicht bei der einen Nachricht. Immer mehr, immer perfider. Und nicht nur Ruth, auch ihre Freunde, Kollegen, erhalten welche.

Doris Knechts Roman „Die Nachricht“ entwickelt einen unglaublichen Sog. Was als unangenehme Lappalie beginnt, wird immer mehr zur unerträglichen Belastung. Die österreichische Schriftstellerin schaut genau auf die Dynamik zwischenmenschlicher Beziehungen, auf Vordergründe, Hintergründe, Abgründe.

Wer hier Ruth stalkt weiß ganz genau, wo anzusetzen ist: bei der Trauer, dem schlechten Gewissen, dem Zwiespalt, in dem Ruth sich vor Ludwigs Tod befand. Es gibt eine Passage in dem Buch, in der Ruth beginnt alles, was ihr zu Ludwig einfiel, aufzuzählen, Kleinigkeiten, banale Dinge, in ihrer Einfachheit und Gesamtsumme eine feine Art Liebeserklärung, bis die Stimmung kippt und alles was nicht mehr gepasst hat aus ihr herausbricht. Zu spät, denn sie kann es Ludwig nicht mehr sagen. Ein plötzlicher Tod lässt Gräben offen.

„Es fordert Leute heraus, wenn sie deine Stärke spüren und deine Unabhängigkeit und manche von ihnen wollen dir das dann wegnehmen. Sie wollen dir zeigen, dass du gar nicht so stark bist und so unabhängig, wie du glaubst. Und sie beginnen ein Kräftemessen, ihre Kraft gegen deine, ohne dass du es merkst, und dann merkst du es.“

Selbst schuld! Zu laut, zu stark, zu unabhängig. Blame the victim! Auch diese schmerzhafte Erfahrung muss Ruth machen. Von Menschen, die sie zu ihren Freunden zählten. Manipulation sticht Solidarität.

Digitales Stalking und Alltagmisogynie, beängstigend wie schnell und leise diese furchtbare Aufdrängung passieren kann. Der unaufgeregte und zugleich prägnante Vortrag im Hörbuch - Vera Teltz genial wie immer – unterstützt das geschriebene Wort noch einmal nachdrücklich.


 
  • Hilfreiche Rezension
Reaktionen: Literaturhexle

Beliebteste Beiträge in diesem Forum