Rezension Rezension (5/5*) zu Die Mittagsfrau. Roman von Julia Franck.

Anjuta

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Buchinformationen und Rezensionen zu Die Mittagsfrau. Roman von Julia Franck
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Vom Geist der Freiheit und der Unfreiheit

Julia Francks Roman „Die Mittagsfrau“ hat 2006 den Deutschen Buchpreis erhalten. Es behandelt ein Frauenleben in Deutschland zwischen den beiden Kriegsenden 2018 und 2045.
Die Handlung setzt mit einem Prolog am Ende dieser Zeitspanne ein: Auf einem Bahnhof im äußersten Osten Deutschlands, auf den die chaotische Situation des Kriegsendes eine große, bunte und verständlicherweise nervöse Menge von Menschen gespült hat, bleibt ein kleiner Junge allein zurück. Alleingelassen von seiner Mutter Alice, die eigentlich nur Fahrkarten kaufen gehen wollte, aber nicht wieder zurückkehrt zur Bank, auf der der Junge wartet. Was ist passiert? Warum kommt sie nicht zurück? Diese Frage stellt sich sofort und sie beschäftigt danach den Leser nicht nur über die Schwelle Prolog/Romanhandlung hinaus. Denn sie wird sehr lange nicht beantwortet. Im Gegenteil: die Romanhandlung setzt an einem ganz anderen Ort, in einer ganz anderen Zeit mit vermeintlich ganz anderem Personal ein und um den Zusammenhang zu der den Leser drängenden Frage zu erkennen, braucht es viele, viele Seiten bis deutlich über die Hälfte des Buches hinaus.
Erzählt wird die Geschichte eines Geschwisterpaares – Helene und Martha –, die in der deutschen östlichen Provinz in Görlitz von einer psychisch kränkelnden und zurückgezogen lebenden Mutter alleine aufgezogen werden. Dieser Mutter wohnt etwas exotisch Nicht-Deutsches inne: sie ist Jüdin, lebt diesen Glauben zwar nicht, aber einige der Rituale und Gewohnheiten spielen im Leben der Kinder dann doch eine gewisse Rolle, zumindest im Privaten. Die Verwandtschaft der Mutter – insbesondere eine Tante der Schwestern in Berlin – werden weitestgehend verschwiegen und kommen im bisherigen Familienleben möglichst nicht vor. Die Schwestern wachsen heran und die Mutter wird immer älter und kränklicher und ist auf Unterstützung angewiesen. Diese erhält sie vorwiegend von einer Hausangestellten, so dass die Schwestern sich auf ihr Leben konzentrieren können. Martha, die Ältere, wird Krankenschwester und auch Helene zieht es in den medizinischen Bereich. Und zunehmend zieht es beide auch weg aus der Provinz Görlitz. Sie nehmen Kontakt zu der „exotischen“ Berliner Tante auf und erhalten die Möglichkeit, nach einer kleinen Erbschaft zu ihr zu übersiedeln. Helene und Martha brechen auf in das Berlin der Goldenen 20er Jahre. Die Lebensweise der Tante führt sie auch direkt in dessen Herz hinein: Parties, Kunst, Alkohol und Drogen, Frauen mit Kurzhaarfrisuren und schwingenden Kleidern ohne Taille, Jazzmusik und andere Elemente dieser Zeit prägen hier ihr Leben. Helene zeigt sich davon zwar durchaus beeindruckt aber auch nicht ausgefüllt und strebt nach einer Berufsausbildung und einem Fortkommen. Sie arbeitet in einer Apotheke, saugt Wissen auf und verliert den Wunsch nach medizinischer Ausbildung nie aus dem Sinn. Sie beginnt ein Verhältnis mit Carl, der sie in all diesem Streben nach Unabhängigkeit und Freiheit unterstützt. Sie lebt mit ihm zusammen, ohne dass seine Eltern davon wissen und ohne die Beziehung durch eine Heirat offiziell zu machen – eine Situation, die in das Berlin und die gesellschaftliche Schicht, in die Helene hineingerutscht ist, durchaus normal und akzeptiert erscheint, die dies aber in anderen Teilen des Landes und anderen gesellschaftlichen Kreisen zu der Zeit ganz sicher nicht war.
In diesen Teil des Buches riecht man geradezu einen Duft der Freiheit – Berliner Luft der 20er Jahre.
Doch Carl kommt bei einem Unfall ums Leben und auch die politische Situation in Deutschland fällt einer Katastrophe anheim. Die Nationalsozialisten erobern die Macht.
Für Helene bricht damit ihre Welt in Gänze zusammen. Die Tante und ihr Umfeld verlieren zunächst mal ihren finanziellen Wohlstand und dann auch viele andere Möglichkeiten des Lebens in Berlin. Für Helene wird ihre jüdische Abstammung immer mehr zum Problem und Nachteil. Doch da bietet ein neuer Freund Hilfe an: Wilhelm, ein aktiver Nationalsozialist will sie heiraten, allerdings nicht als Jüdin. Und so verschafft er ihr einen neuen Pass – eine neue Identität und sie wird zu Alice. Sie ziehen gemeinsam nach Stettin und bekommen einen Sohn. Und hier schließt sich nun der große Bogen, den Julia Franck mit dem Leser vom Prolog durch die Romanhandlung hindurch schlägt. Hier endlich haben wir das Personal des Prologs wieder vor Augen: Alice und ihren Sohn.
Die Ehe ist für Alice und den Leser quälend und das genaue Gegenteil von der Beziehung mit Carl: unfrei und durch Abhängigkeiten geprägt und gelebt. Die veränderte Identität macht beide – Alice und Wilhelm – voneinander abhängig und erpressbar: Wilhelm könnte die jüdische Identität von Alice preisgeben, aber dann wäre auch ruchbar, dass er als aktiver, erfolgreicher Nationalsozialist eine Jüdin nicht nur geheiratet, sondern ihr auch aktiv zu einer verschleiernden deutschen Identität verholfen hat. Letztlich ist diese gegenseitige Abhängigkeit das Einzige, das die Ehe zusammenhält. Gemeinsamkeiten gibt es darüber hinaus keine.
In diesem Teil des Buches nun hat sich der Duft der Freiheit so komplett, wie es nur geht, verflüchtigt und ist einem Geist der Abhängigkeit, der Unfreiheit und der Lieblosigkeit gewichen.
Der politische Umschwung in den 30ern wird so in „Die Mittagsfrau“ am individuellen Beispiel der Helene/Alice mit den schwerwiegenden Auswirkungen auf das private Leben dem Leser unter die Haut gebracht!
Wilhelm kümmert sich in den Folgejahren wenig um Alice und ihren Sohn, ist meist abwesend und Alice arbeitet als Krankenschwester und kümmert sich, so gut es daneben geht, um ihren Sohn. Sie tut das durchaus liebevoll und fürsorglich, dennoch aber ist und bleibt dieser Sohn für sie wohl bis zum Ende eben Teil dieses unfreien und aufgezwungenen Lebens in diesem Abschnitt ihres Lebens, in dem sie ihre eigentliche Identität verheimlichen muss. Als dann das Kriegsende da ist, kommt es zu der Situation auf dem Bahnhof, in der sie den Sohn zurücklässt, ihm aber doch so viele Mittel und Informationen im Gepäck lässt, dass er zur Familie von Wilhelm gelangen und dort auch aufgenommen und einigermaßen behütet aufwachsen kann.
Helene nutzt die Gelegenheit wohl, um noch einmal einen Sprung aus dem aufgezwungenen Leben der Alice zu wagen. Ob das tatsächlich gelingt und wie das aussieht, dazu erfährt der Leser aber im Roman nichts mehr.
Ist der kalte Schnitt der Mutter Alice aus dem Prolog dem Leser also am Ende verständlich? Ja und nein. Julia Franck erzählt so vielschichtig, dass da kein reines Schwarz oder Weiß als Antwort dienen kann.
FAZIT:
Die Mittagsfrau hat mich fasziniert. Die Geschichte ist auf sehr ungewöhnliche Weise erzählt und gibt dem Leser nicht alle Antworten, die er sucht, einfach und leicht an die Hand. Julia Franck schafft es, auf subtile Art den Stimmungsumschwung von Weimarer Republik zum Dritten Reich im Persönlichen zu schildern. Dafür gebe ich ihr gern 5 Sterne, kann den Verleihern des Deutschen Buchpreises 2006 nur zu dieser Wahl gratulieren und wünsche dem Buch noch viele, viele Leser.