Rezension Rezension (5/5*) zu Die Menschheit hat den Verstand verloren: Tagebücher 1939-1945 von Astrid Lind.

Anjuta

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8. Januar 2016
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Leider konnten wir zu diesem Buch keine Daten ermitteln.
Zum Glück: Nicht alle haben den Verstand verloren

1939 bricht in Europa der Krieg aus und wird sich in den kommenden Jahren auf einen Weltkrieg ausweiten, der den Erdenball überall in Atem hält. So auch die Menschen in Schweden, obwohl dieses Land mit seinem neutralen Status eine der wenigen friedlichen Ecken des Kontinentes Europa bleiben kann. Und doch beherrscht das Kriegsgeschehen das Leben und Denken auch der Schweden in diesen Zeiten. Denn er kommt ihnen sehr nahe mit immer wieder unabsehbaren weiteren Entwicklungen und beherrscht auch dort die Versorgung der Menschen mit den lebensnotwendigen Gütern.
In diesen Zeiten beschließt Astrid Lindgren - damals noch keine Schriftstellerin, sondern vor allem Ehefrau und Mutter - in einem Tagebuch das Geschehen festzuhalten. Und mit ihrem Tagebuch dokumentiert sie uns sehr menschlich und anschaulich: „Die Menschheit hat den Verstand verloren.“
Die Tagebücher von Astrid Lindgren aus den Jahren 39-45 vereinen dabei einen Blick auf Familiäres in der sie wohl nicht ganz ausfüllenden Ehe mit einem erfolgreichen Bankmanager in Stockholm und mit zwei heranwachsenden Kindern mit dem Blick auf den Fortgang des Krieges, der in einigen Zeiten dem Stockholmer Heim der Autorin bis Dänemark und Finnland doch sehr nahe kommt, ihr in anderen Zeiten etwas mehr des Durchatmens ermöglicht, wenn er etwa auf Nordafrika oder andere ferne Länder konzentriert ist.
Lindgren vermittelt dem Leser dabei eine Sichtweise auf den Zweiten Weltkrieg, wie er mir bisher noch nicht untergekommen ist. Von einer geografischen Position aus, die für mich bisher in diesem Zusammenhang keine Rolle gespielt hat und dadurch deren Kennenlernen umso interessanter macht. Und von einer relativ friedlichen Position heraus, die in der deutschen Sicht so nicht gegeben sein konnte. Das alles und ihre treffende, warme Sprache lässt für mich das manchmal durchaus stark Dokumentarische der Tagebücher zu einem literarischen Text mit hohem Wert und Erkenntnisgewinn werden.
Der Aufbau des Buches ist folgendermaßen: Jedes der beschriebenen 7 Jahre wird zunächst durch die Wiedergabe der handschriftlichen Einträge Lindgrens, dann durch die im Faksimile abgedruckten Textausschnitte aus schwedischen Zeitungen und zum Schluss durch deren Übersetzung ins Deutsche abgedeckt.
Lindgren arbeitet während des Krieges, also parallel zu der Führung des Tagebuches, als Schreibkraft in einer Kontrollstelle für internationalen Briefverkehr und kommt so auch zu ganz persönlichen Eindrücken über die Auswirkungen des Krieges auf Individuen aus den von Deutschen besetzten Ländern. Auch diese teilt sie immer wieder mit ihrem Tagebuch und damit auch mit dem Leser.
Parallel beginnt sie auch aus der Geschichtenerzählung für ihre Kinder ein literarisches Werk zu machen und schreibt und veröffentlicht erste Werke, darunter auch die Pippi Langstrumpf, die im Jahr 1944 erscheint. Sie sagt dazu selber:
Ein „verflixt lustiges Buch, das wahrscheinlich nie entstanden wäre, wenn ich mir im Spätwinter 1944 nicht den Fuß verknackst hätte. Aber das hätte vielleicht auch nichts gemacht!“
Gut dass Astrid Lindgren sich in diesem Tagebuch nie so irrt wie an dieser Stelle.
Mein Fazit:
Der Blick einer klugen und schreibstarken Frau auf ein Geschehen, das auch heute nicht seine Bedeutung für unser Leben und unsere Zukunft verloren hat. Ein absolut lesenswertes Zeitdokument!


 
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