Rezension (5/5*) zu Die Lüge von Mikita Franko

otegami

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17. Dezember 2021
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Der ‚Regenbogenfamlien-Kokon‘

Was bedeutet es für ein Kind, wenn es in einem Kokon aufwächst? Der Kokon umfasst allein Onkel Slawa, dessen Lebenspartner Lew und Miki selbst, und das im schwulenfeindlichen Russland! Niemand darf von dieser Konstellation wissen, denn sonst würde Slawa das Sorgerecht entzogen. Slawas Schwester, die Mutter von Miki, hatte sich das vor ihrem Tod (Brustkrebs), als Miki 4 Jahre alt war, so wünscht. In einem Brief, den sie ihm hinterließ, schrieb sie unter anderem: "Wenn du mit Slawa und (wie ich sehr hoffe) dem Mann, den er liebt, aufwächst, wird das für dich eine nicht einfache, aber unschätzbar wertvolle Erfahrung…….. Du wirst lernen, hinter die gesellschaftlichen Schablonen zu blicken und den wahren Menschen zu sehen, aber vor allem wirst du lernen, frei zu denken."

Ich gestehe: manchmal wurde mir Mikis Baden im Selbstmitleid (und seine Wut, die daraus resultierte) zu viel! Andererseits kann ich mir wahrscheinlich auch nicht im Entferntesten vorstellen, was so ein Leben im Einzelnen bedeutet: wenn jemand Fremdes in die Wohnung kommen will, müssen sämtliche Familienbilder der Drei + die Regenbogenfähnchen weggeräumt werden, Miki darf nie die Partnerschaft von Slawa und Lew erwähnen, er muss sich dumme Witze und Sprüche über Schwule anhören, sollte aber keine Stellung dazu beziehen, weil er ja dadurch das Konstrukt verraten könnte. Fazit: er lebt permanent mit einer Lüge!

Miki ist sehr introvertiert. Veranlagung oder sind es die Umstände? Slawa und Lew sind – obwohl unterschiedlich, aber sich perfekt ergänzend – großartige Eltern, die man jedem Kind nur wünschen kann! Voller Verständnis und trotzdem auf Regeln bestehend, sind beide für ihn die Felsen in einer Brandung. Wunderschöne Szenen, wie z.B. das Heimkommen nach dem Kennenlernen seines leiblichen Vaters, das tiefgründige Gespräch mit Lew nach seinem Selbstmordversuch, der Besuch im Kinderheim und viele mehr berührten mich tief!

Begeistert hat mich auch Lews Erklärung, die Einstellung der Menschen gegenüber queeren Paaren wäre vergleichbar mit der Zeit, in der die Menschheit dachte, die Erde wäre eine Scheibe und deren Festhalten daran. „Weil die Dinge, die sie (die Gelehrten) gesagt haben, für die anderen ungewohnt und seltsam waren. Den anderen Menschen fiel es schwer, etwas zu akzeptieren, das sie nicht verstanden haben. Obwohl die Gelehrten die Wahrheit gesagt haben, war es für die Leute einfacher, sie umzubringen, als ihre eigenen Ansichten zu ändern.“

Auch von der russischen Gesellschaft bekommt der Leser einiges mit: z.B. ‚Ich bin diese verfluchte Wahl zwischen Gewalt und Gewalt so leid. Hier bleibt selbst den Kindern nichts, als sich ihre Henker auszusuchen.‘ oder ‚Wenn ich doch nur wüsste, wie man dieses wuchernde Übel ausrottet, dieses Waisentum trotz lebender Eltern‘.

Fünf Sterne gebe ich diesem emotionalen Roman, der mich stark beeindruckte und dem ich viele, viele Leser wünsche! Ich hoffe, dass auch weniger aufgeschlossene Menschen dieses Buch lesen und ihre Einstellung zu diesem Thema auf den Prüfstand stellen.



 
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