Rezension Rezension (5/5*) zu Die Hungrigen und die Satten von Timur Vermes.

KaratekaDD

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13. April 2014
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Neustrelitz
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Buchinformationen und Rezensionen zu Die Hungrigen und die Satten von Timur Vermes
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Fängt dort an wo der Spaß aufhört

Und der Spaß hört auf. Er hört auf eine Art und Weise auf, die schleppend beginnt. Er hört umso mehr auf, je mehr die Grenze von Österreich zu Deutschland naht. Für 150.000.

Was war geschehen? Deutschland hat endlich seine Obergrenze durchgesetzt. Irgendwie hat das dazu geführt, daß die Flüchtlinge erstmal fortblieben. Sie sammeln sich da, wo sie hingehören in Flüchtlingslagern tief in der Dritten Welt. Europa scheint sich einig geworden zu sein. Ergebnis: FRONTEX funktioniert.

Nadeche Hackenbusch, eine Starmoderatorin des dritten Fernsehens reist in die Dritte Welt, in das größte derzeit existierende Lager der Post-Merkel-Ära. Pardon, das dritte Fernsehen ist natürlich Mai TV – ein Privatsender vielleicht so wie RTL II. Sie trifft dort auf DEN FLÜCHTLING. Der träumt davon, soviel Geld zusammen zu bekommen, dass er einen Spitzenschlepper bezahlen kann, der ihn nach D bringt. Das ist nicht einfach, wenn man jeden Cent, den man verdient, erdient, egaunert hat, mit anderen teilen muss, die dabei geholfen haben. Doch es naht seine große Chance, das ist Nadeche mit dem trolligen Englisch. Diese wächst angesichts de Elends über sich hinaus. Da hilft auch ihr Sender nicht, der vor allem mit seinem Star nach einem Quotenhit sucht.

Nadeche zieht mit Lionel los. 300000 nehmen sie mit. Der Engel aus Deutschland, Mutter zweier Kinder, strohdumm und super hübsch, setzt sich durch und bleibt in mitten dieses Marsches. Mit ihr geht eine gewisse Astrid von Roel, die für ihr Boulevardblatt berichtet. Lionel hat es geschafft, dass die 150000, regelmäßig mit Wasser und Nahrung versorgt, jeden Tag 15 km gehen, alle 15 km steht ein Wassertanklaster und ein LKW mit Lebensmitteln für 1000 Menschen, schön nummeriert von 1 bis 300. Eine logistische Meisterleistung, finanziert von allen, die da marschieren, dank moderner bankingfähiger Kommunikationstechnik.

In Deutschland macht sich Innenminister Leubel, CSU, langsam Sorgen. Der Alte wird einem im Kreis seiner Frau und seiner Enkelin richtig sympathisch. Mit einigem Abstand kommt einem der Gedanke, dass dies die einzigen Szenen sind, die am Ende normale Szenen waren. Oma, Opa und die Enkelin mit Gesprächen am Abendbrottisch, wie sie so oft in vielen Familien vorkommen. Die 150000 kommen immer näher.

Mittlerweile überwinden die sich überschlagend bewegende Flüchtlingsschlange die Sahara, Ägypten, Jordanien, Syrien, die Türkei – wer hätte das gedacht – und nun ist es nicht mehr weit. Es naht die Grenze und in Deutschland geschieht ein Mord...

Das Buch ist nicht einfach nur großartig – lustig – böse – traurig, wie man im Sternzitat auf der Webseite des Lübbe-Verlages lesen kann. Es war lustig, es wurde böse und böser und es endete unendlich traurig – und es endete satirisch durch die Arbeit einer Journalistik-Studentin, kommentiert von einem, der wissen muss, wie das mit einer Nadeche Hackenbusch wirklich gewesen ist, einem an der Astrid-von-Roel-Akademie für Qualitätsjornalismus, der sowohl diese Astrid als auch Nadeche kannte.

Es scheint, als hätten alle vergessen, auch Claus Maria Herbst geht darauf nicht ein, dass bereits 1990 ein Film entstand, der das kommende Problem aufzeigte: Der Film hieß bezeichnenderweise DER MARSCH. In diesem wird einer EG-Kommissarin gezeigt, wie es in diesen Lagern zugeht. Deren Rolle übernimmt besagte Moderatorin, genannt Malaika – der Engel. Beide Geschichten haben denselben Hintergrund, das Ziel ist aber nur teilweise dasselbe.

Hier handelt es sich um „eine Gesellschaftssatire vom Feinsten, die unsere Realität schonungslos durchleuchtet und demaskiert. Ob es um eine zynische Medienszene geht, die das Leid anderer als Quotenbringer nutzt, um eine Politik, die ihre Aufgabe nur mehr darin sieht, „Scheiße von hier nach dort“ zu verschieben und sich hauptsächlich vor schlimmen Bildern fürchtet, oder um die Flüchtlinge und ihren unerschütterlichen Glauben an Europa: Timur Vermes seziert die Gegenwart mit feiner, aber scharfer Klinge. Dabei ist er gleichzeitig humorvoll und bitterböse, empathisch und respektlos – und von der ersten bis zur letzten Seite unterhaltend.“ *

Allerdings ist das so eine Sache mit der Unterhaltung bis zur letzten Seite: Die letzten Seiten sind sicher wieder ausgibig satirisch, das Ende der Geschichte allerdings weniger „unterhaltend“: Man hält den Atem an, angesichts der kommenden Katastrophe. Diese naht, hörend oder lesend, um so schneller, je näher die immer größer werdende, unüberschaubare Menschenmenge den Bosporus überwindet und Europa betritt.

Laut Timur Vermes „geht’s um zwei Knackpunkte: Erstens ist klar, dass, wenn Flüchtlinge im großen Schwung nach Deutschland kommen, unvorbereitet und ohne Plan, dieses Land nach rechts kippt. Wird die Welt da zuschauen? Nachdem sie in zwei Weltkriegen gegen ein autoritäres Deutschland gesehen hat, wie schwer wir wieder einzufangen sind? Punkt zwei: Wenn wer was unternimmt, wird er’s Ihnen nicht sagen. So ist das eben mit der hybriden Kriegsführung. Wie in der Ukraine, in Syrien, im Jemen. Es wird sogar Trolle geben, die sagen, das sei alles für die Kameras erfunden worden. Das ist dann „Die Salzburger Grenzlüge“ oder so. Das sind Optionen, die man einigermaßen fassungslos zur Kenntnis nimmt, die mir als Autor aber ganz neue Möglichkeiten eröffnen.“ **

Es ist ein politisches Buch, eine Lösung offeriert es nicht. Nachdenklich macht es schon, ob des Rechtsrucks, der hoffentlich nur scheinbar und nicht anscheinend durch Deutschland geht. Hoffentlich. Interessant ist auch die Entwicklung, die Nadeche und Astrid während der monatelangen Reise nehmen, von der Regenbogenschreiberin bleibt genausowenig übrig wie von der einfältigen reichen Moderatorin. Fand ich jedenfalls.

Timur Vermes, geboren 1957 in Nürnberg, hatte vor einigen Jahren mit ER IST WIEDER DA einen großen Erfolg. Claus Maria Herbst las auch dieses Buch und immitierte dabei Adolf Hittlers Stimme hervorragend. Auch bei diesem Buch blieb einem nach herzhaften Lachen dieses Lachen im Halse stecken. Der Autor hat im Interview direkt gesagt: „Das Ziel ist ..., die Leser sollen auch mal schlucken. Solche Situationen gibt es aber auch in „Er ist wieder da.“ **

Es ist zu empfehlen, dieses Buch, gegen Rechts, gegen Globalisierung, für Menschlichkeit, Zusammenarbeit, Demokratie.



* Deutschlandfunk: https://www.deutschlandfunkkultur.d...tterboese.950.de.html?dram:article_id=426426; 03.10.2018, 17:10 Uhr

** Interview mit Timus Vermes bei Spiegel-online
http://www.spiegel.de/kultur/litera...-alle-reden-vom-schiessbefehl-a-1224819.html; 03.10.2018, 17:10 Uhr