Rezension Rezension (5/5*) zu Die Hauptstadt: Roman von Robert Menasse.

wal.li

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1. Mai 2014
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Buchinformationen und Rezensionen zu Die Hauptstadt: Roman von Robert Menasse
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Zum Jahrestag der Gründung der EU-Kommission soll Fenia Xenopoulou einen Festakt organisieren, mit dem sowohl eine Feier begangen werden soll als auch das Image der Kommission aufgebessert werden soll. Fenia, die im Grunde schnellstmöglich wieder von der Kultur weg will, beauftragt Martin Susman mit der Erstellung eines Konzepts. Zur gleichen Zeit zieht einer der letzten Überlebenden des Konzentrationslagers Auschwitz, David de Vriend, in ein Seniorenheim; Kommissar Brunfaut versucht einen Mord aufzuklären, der verschwunden ist; Professor Erhart bereitet sich auf eine Rede vor und ein unbekanntes Hausschwein geistert durch Brüssel.

Etliche Geschichten verschiedener Personen, die als Ganzes doch einen Zusammenhang haben. Die Läufe der Brüsseler Bürokratie, die in dem Willen, die Eigenheiten jedes Mitgliedstaates zu berücksichtigen, kaum eine andere Chance hat als sich zu verzetteln. Einer der scheidenden Engländer bringt es auf den Punkt, was die Eliten im britischen Parlament ohne auf das Wohl des Volkes zu achten innerhalb von zwanzig Minuten entscheiden, dauert in der EU Wochen und Monate. Mit Anfragen, Communiqués, Sitzungen endet es in Kompromissen, die die Gepflogenheiten aller EU-Länder berücksichtigen (sollen), in denen sich der Einzelne aber nicht mehr wiederfindet. Was kann die eigentlich hervorragende Europäische Idee des „Nie wieder Auschwitz, nie wieder Rassismus!“ noch retten?

Tja, die normale Öffentlichkeit verlustiert sich mit der Namensgebung eines Schweins, das im Verlauf der Zeit immer mehr zum Phantom wird. Inzwischen werden Morde ignoriert, ein Festakt in der Bürokratie zermalmt, eigentlich bahnbrechende Ideen im Keim erstickt, gehen Erinnerungen mit den letzten Überlebenden verloren und nichts scheint wichtiger als der Absatz von Schweineschlachtabfällen in China.

Mit seiner beinahe allumfassenden Geschichte über die europäische Bürokratie und ihre Auswüchse fordert Robert Menasse zum aufmerksamen Lesen. Teils kennt man die Strukturen, teils ist man überrascht und manchmal auch erschrocken, hin und wieder belustigt. Doch immer wirkt die Darstellung so, als ob es tatsächlich so sein könnte. Der Alltag in den EU-Behörden könnte so stattfinden. Da kann schon mal ein Pass gewechselt werden wegen der Karrierechancen. Da könnte man nachdenken, welche Bedeutung die eigene Herkunft noch haben könnte. Weiterentwicklung oder Stillstand. Hat die EU noch eine Vision? Eine Frage, die der Autor nicht beantwortet. Je nach Einstellung des Lesers könnte der Roman ein Abgesang sein, durch den die Unmöglichkeit des „Unter einen Hut bringens aller Beteiligten“ nur noch deutlicher wird, oder eine vage Hoffnung auf einen echten Fortschritt in Richtung eines wirklichen Staates EU, in dem die Herkunft nur noch der Name eines Ortes, einer Stadt ist, mit dem aber keine Eigeninteressen einzelner Staaten mehr verbunden sind. Interpretationen der Absicht des Autors bleiben natürlich den Lesern überlassen, doch dass dieses Buch den Anlass gibt solche Interpretationen anzustellen oder gar eine eigene Meinung zu finden, ist geradezu großartig. Vielleicht sollte tatsächlich der Schritt zu einer wahren Union gewagt werden.


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