Rezension (5/5*) zu Die goldene Stadt von Sabrina Janesch

Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Das sagenhafte Eldorado

"Kein Wunder, dass diese Stadt den Spaniern verborgen geblieben ist, dachte Berns. (...) Vielleicht lag genau darin ihr Wesen begründet: in der Unvorstellbarkeit. Man wähle den unmöglichsten aller Standorte, nehme die ärgsten Entbehrungen auf sich, um das Land zu roden, zu räumen, zu ebnen - und errichte dort eine Stadtanlage, die an Schönheit alles übertrifft, was es auf dem Kontinent zu bestaunen gab."

Als "Entdecker" der verlassenen Inkastadt, die wir heute unter dem Namen Machu Picchu kennen, galt lange Zeit der Amerikaner Hiram Bingham - zumindest habe ich es so gelernt.* Heute besteht weitgehende Einigkeit, dass ein Deutscher erstmalig die Stadt erforscht hat, und zwar schon mehr als vierzig Jahre vor Bingham, im Jahr 1867. August Rudolf Berns, im Uerdingen am Rhein geboren, träumt sich schon als Jugendlicher aus seinem kleinbürgerlichen Milieu heraus ins "sagenhafte Goldland" Peru. Seine Einbildungskraft ist die einzige Rettung in der häuslichen Enge und der Schule, die man heute zu Recht als "Presse" bezeichnen würde. Als die Einziehung zum Militär bevorsteht, tritt Berns endlich die Flucht nach vorn an und macht sich per Schiff, mit wenig Gepäck und noch weniger Kapital, auf den Weg nach Südamerika.

Farbig und detailreich erzählt Sabrina Janesch von dieser anstrengenden Schiffsreise, von Berns' Zeit in Lima und später in Cusco, wo er sich wertvolle Verbindungen schafft und treue Freunde findet. Er betätigt sich als Ingenieur beim Eisenbahnbau auf dem Andenhochland, erweist sich als zäh und verlässlich. Doch im Grunde geht es ihm nur darum, genügend Kapital und Kenntnisse zusammenzubringen, um auf die Suche nach "El Dorado" zu gehen, der sagenhaften Hauptstadt der Inka, wo alle Häuser mit Gold verkleidet sein sollen. Dabei geht es Berns nicht in erster Linie darum, reich zu werden - seine Antriebskraft ist die Überzeugung des Entdeckers, dass etwas da sein muss und nur darauf wartet, gefunden zu werden. Wie die Autorin überzeugend darlegt, fand Berns den Standort der Stadt Machu Picchu nicht durch Zufall, sondern aufgrund von Berechnungen, die er im Hinblick auf bereits gefundene und vermessene Ruinen anstellte.

Sabrina Janesch erzählt Berns' Geschichte in Romanform, doch ihre Überzeugungskraft ist derart, dass man sicher sein kann: Berns war genauso, wie sie ihn darstellt. Das Buch ist eine herrliche Charakterschilderung. Berns hat alle Eigenschaften, die man wohl damals mit "den Deutschen" verband; er ist fleißig und gewissenhaft, zäh und ausdauernd, integer durch und durch. Doch auch die andere Facette seines Charakters, seine Gewitztheit im Umgang mit Menschen bis hin zur Manipulation, tritt deutlich zutage und sorgt für viel Lesevergnügen.

Der größte Pluspunkt bei diesem Roman ist für mich aber die Schilderung des Landes: der lichterfüllten Stadt Cusco, wo alle Kirchen und Klöster auf den Fundamenten alter Kultstätten errichtet wurden, des kalten und klaren Andenhochlandes mit seinen Steppen und schneebedeckten Gipfeln, des Dschungels in den tiefen Schluchten, wo Sträucher und Lianen schneller nachwachsen, als man sie schlagen kann, und jeder Schritt zur Strapaze wird ... Dieses Buch enthält keine einzige langweilige Seite, keine einzige Szene, die mit belanglosen Sätzen erledigt wird, kein Problem, das sich im Vorbeigehen von selbst löst. (Die Frage nach der Legitimität solcher Suche nach dem "Inkagold", das sei noch erwähnt, stellt die Autorin nicht ausdrücklich. Sie schwingt aber immer im Hintergrund mit, wenn gefundene Kultgegenstände ohne weiteres nach Berlin verkauft werden und jeder Goldsucher alles, was er findet, sofort einschmelzen lässt - doch Berns, das sei nochmals gesagt, versteht sich nicht als Goldsucher.)

Ein wunderbares Buch, für das man sich Zeit nehmen sollte. Jede Seite ein Lesegenuss!

*) Ein Kuriosum nebenbei: Als ich 2015 das erste Mal Machu Picchu besuchte, erzählte bereits unsere damalige Guide, eine Quechua-Indigene, dass nicht Bingham den Ort gefunden habe, sondern ein anderer Entdecker - ich kann mich nicht mehr erinnern, welchen Namen sie nannte. Aber sie sagte, ein einheimischer Junge habe beim Finden des Ortes (der damals von Dschungel überwuchert war) geholfen. Dieser Junge kommt ebenfalls in dem Buch vor, wenn auch in etwas anderem Sinn. Ich vermute, die Einheimischen haben ihre eigenen Legenden - unsere Guide gab uns ausführliche Hinweise zu der besonderen Magie des Ortes, von der sie tief überzeugt war.

 

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Das Buch hat einen Erzählfluss, der mich begeistert hat - ich denke seit Tagen darüber nach, worauf sich das eigentlich gründet. Einmal natürlich das sprachliche Niveau, aber vor allem ist es wohl die gleichbleibende, nie nachlassende Ökonomie des Erzählens, in der jede Einzelheit mit Freude und Sorgfalt behandelt wird. Der erste Romancier, der mir als leuchtendes Beispiel solcher Erzählkunst einfällt, ist Dickens.

(Das soll nicht heißen, dass Janesch uns mit überflüssigen Details bombardiert - im Gegenteil. Alles, was sie erzählt, ist ungemein genau beobachtet und mit Bedacht ins große Ganze eingepasst.)

Danke euch!
 

pengulina

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22. November 2022
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Ich habe gestern das erste Kapitel gelesen und werde es erst einmal wieder in die Bibliothek zurückbringen. Ich finde das Buch zu lang und halte es für einen Abenteuerroman für Jugendliche. Vielleicht mache ich irgendwann einmal noch einen Versuch, aber hier und jetzt hat es mich nicht so begeistert, dass ich weiterlesen möchte.
 
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Reaktionen: Die Häsin

GAIA

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27. Dezember 2021
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Thüringen
Ich finde das Buch zu lang und halte es für einen Abenteuerroman für Jugendliche.
Beides empfand ich gar nicht so. Also, ja natürlich , auch Jugendliche könnten potentiell das Buch lesen, aber es hat mich als Erwachsene wirklich gepackt. Und obwohl ich eher zu kurzen Büchern tendiere, hat mich hier die Länger gar nicht gestört. Die Seiten flogen nur so dahin.
Aber egal, manchmal passt es einfach nicht. Schön, dass du es versucht hast. Vielleicht bekommt das Buch ja noch einmal eine zweite Chance bei dir... wenn man nicht immer sowieso schon so viele potentielle Lektüren in der Warteschlange hätte. ;)