Rezension Rezension (5/5*) zu Die Geschichte der Baltimores: Roman von Joël Dicker.

Renie

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19. Mai 2014
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renies-lesetagebuch.blogspot.de
Ein Autor hat einen Bestseller herausgebracht. Sein Buch hat sich millionenfach verkauft. Jetzt steht er unter Erfolgszwang, denn die Leserschaft verlangt nach einem weiteren Roman, der mindestens an den Vorgänger heranreicht. Schafft es der Autor mit dieser erdrückenden Erwartungshaltung umzugehen? Hat er nicht mit seinem ersten grandiosen Bestseller sein schriftstellerisches Pulver verschossen?
Und schließlich ist es soweit, sein neuer Roman wird veröffentlicht. Von der Optik her fühlt man sich an den Vorgänger erinnert: ähnliches Cover, gleiche Art der Illustrationen und einer der Hauptcharaktere kommt ebenfalls in der Geschichte vor.
Da kommt leicht der Verdacht auf, dass der Nachfolger ein Abklatsch des erfolgreichen Vorgängers ist. Nicht so bei Joël Dicker, der mit seinem Roman „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“, veröffentlicht im Jahre 2012, ein unglaubliches Buch geschrieben hat. Sein neuer Roman „Die Geschichte der Baltimores“ weist nur sehr wenige Parallelen zu seinem Vorgänger auf. Auch wenn Joël Dicker die Messlatte durch seinen Erfolg mit „Harry Quebert“ sehr hoch gehängt hat, schafft er trotzdem das Kunststück, mit seinem Neuling noch einen draufzulegen.

Worum geht es in diesem Roman?
Die Goldmans aus Montclair sind eine typische Mittelstandsfamilie, sie leben in einem langweiligen Vorort von New Jersey und schicken ihren Sohn Marcus auf eine staatliche Schule. Ganz anders die Goldmans aus Baltimore: Man ist wohlhabend und erfolgreich, der Sohn Hillel hochbegabt, der Adoptivsohn Woody ein vielversprechender Sportler. Als Kind ist Marcus hin- und hergerissen zwischen der Bewunderung für diese „besseren“ Verwandten und seiner leisen Eifersucht auf ihr perfektes Leben. Hillel und Woody aber sind seine besten Freunde, zu dritt sind sie unschlagbar, zu dritt schwärmen sie für das gleiche Mädchen – Alexandra. Bis ihre heile Welt eines Tages für immer zerbricht. Acht Jahre nach der Katastrophe beschließt Marcus, inzwischen längst berühmter Schriftsteller, die Geschichte der Baltimores aufzuschreiben. Aber das Leben ist komplizierter als geahnt, und die Wahrheit über die Familie hat viele Gesichter, die ihm gänzlich unbekannt waren … (Klappentext)

Marcus Goldman is back! Marcus, der bereits in Joël Dickers Buch "Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert" eine wichtige Rolle gespielt hat, übernimmt auch diesmal die Funktion des Erzählers. Er setzt mit seiner Geschichte im Oktober 2004 ein - „einen Monat vor der Katastrophe“ wie uns in der Überschrift des Kapitels verraten wird. Es bedarf also nicht vieler Worte, um direkt die volle Aufmerksamkeit des Lesers zu erlangen. Schon ist man in der Geschichte drin und sucht nach Hinweisen, was es mit dieser „Katastrophe“ auf sich haben könnte.

"' ... Die Katastrophe des Lebens. Es gab immer Katastrophen, es wird immer Katastrophen geben, und das Leben geht trotzdem weiter. Katastrophen sind unvermeidlich. Sie haben im Grunde keine große Bedeutung. Wichtig ist nur, wie wir sie überwinden. ...'" (S. 505)

Marcus Goldman holt in seiner Erzählung zunächst weit aus. Rückblickend (wir schreiben mittlerweile das Jahr 2012) führt er uns in die 80er und 90erJahre, die Zeit seiner Kindheit und Jugend. Hier lernt der Leser die Goldman-Gang kennen – Marcus und seine beiden Cousins Hillel und Woody, die alle drei im gleichen Alter sind, und die eine unzertrennliche Freundschaft verbindet. Marcus genießt es, Ferien und Feiertage mit seinen Cousins aus Baltimore zu verbringen. Sein reicher Onkel Saul und dessen Frau Anita, sehen es als selbstverständlich an, dass Marcus bei ihnen ein- und ausgeht. Er ist wie ein dritter Sohn für sie. Marcus empfindet Bewunderung für den Lifestyle der „Baltimores“, der so völlig im Kontrast zu dem Leben steht, das er mit seinen eigenen Eltern, den „Montclairs“, führt. Der Leser begleitet die drei Jungen durch ihre Kindheit, allerdings immer wieder unterbrochen von Momentaufnahmen der Gegenwart, 8 Jahre nach der Katastrophe.
Marcus möchte nach all den Ereignissen, die seine Kindheit geprägt haben, ein Buch über die Geschichte der Familie Goldman schreiben. Während er seine Kindheit und Jugend Revue passieren lässt, fängt er an, vieles zu hinterfragen. Ihm wird schnell bewusst, dass in der Geschichte seiner Familie Dinge geschehen sind, deren Hintergründe er erst heute, mit einigen Jahren Abstand versteht.

"Das war es, was die Goldman-Gang zusammengehalten hatte: Wir waren großartige Träumer gewesen. Das hatte uns ausgezeichnet. Und nun war ich der Letzte von uns dreien, der noch einem Traum nachhing. Dem ursprünglichen Traum. Warum wollte ich ein berühmter Schriftsteller werden und nicht einfach nur Schriftsteller? Wegen der Baltimores. Einst waren sie meine Vorbilder gewesen, dann waren sie zu Rivalen geworden. Ich wollte nur eins: sie übertreffen." (S. 418 f.)

Stellenweise fühlte ich mich an eine griechische Tragödie erinnert - nur dass Joël Dicker mit seinem Erzählstil um einiges unterhaltsamer ist ;-). Protagonisten, die sich in eine ausweglose Situation hineinmanövrieren, eine unabwendbare herannahende Katastrophe, innere Konflikte und Zerrissenheit, die die tragischen Helden ins Unglück stürzen. Das alles findet man bei Joël Dicker. Bei ihm geht es um Liebe und Eifersucht, Bewunderung und Neid, Bruderliebe und Rivalität, Vater-Sohn-Konflikt, Familienbande, Stolz, Missverständnis etc. etc. etc. Man stellt an vielen Stellen fest, dass das Leben in der Familie Goldman einer gefühlsmäßigen Gratwanderung gleich kommt:
Marcus‘ Bewunderung für die Baltimores lässt sich selten von Neid unterscheiden. Dieser Neid wird ihn seine ganze Kindheit begleiten. Doch erst im Erwachsenenalter wird er dieses Gefühl verstehen und lernen, damit umzugehen.
Hillel und der adoptierte Woody verbindet eine innige Geschwisterliebe. Aber dennoch ist ihr Miteinander von Rivalität und Eifersucht geprägt. Unbewusst gönnt keiner dem anderen die ihm eigene Begabung. Sie kämpfen mit der ständigen Angst, dass der andere den Eltern wichtiger sein könnte, weil er etwas kann, das man selbst nicht beherrscht. Und doch halten sie zusammen wie Pech und Schwefel. Sie können nicht ohne den anderen.

Familiäre Beziehungsprobleme scheinen bei den Goldmans von Generation zu Generation weitergegeben zu werden. Es wundert nicht, dass Marcus Goldman bei seinen Nachforschungen bestätigt bekommt, dass auch sein Vater und dessen Bruder Saul mit Rivalität, Neid und Eifersucht zu kämpfen hatten. Die Brüder waren ständig dem Druck ausgesetzt, sich ihrem dominanten Vater gegenüber beweisen zu müssen, und um dessen Liebe zu kämpfen.

"In solchen Momenten war ich böse auf Onkel Saul, weil er meine Eltern kleinmachte. Er verhexte sie mit seinem verfluchten Geld, sodass sie zu zwei jämmerlichen Würmchen schrumpften, die sich verkleiden mussten, um sich ein Essen spendieren zu lassen, das sie sich selbst nie leisten könnten. Und ich sah den unmäßigen Stolz im Blick meiner Großeltern. Nach jedem dieser Ausflüge verkündete Großvater Goldman jedem, der es hören wollte, wie sagenhaft erfolgreich sein Sohn sei, der große Saul, der König des Hauses Baltimore." (S. 350)

Joël Dicker ist ein begnadeter Geschichtenerzähler. Sein Sprachstil ist durch eine Leichtigkeit gekennzeichnet, die die Seiten nur so dahinfliegen lassen. Gerade die Erzählungen aus der Kindheit der Goldman-Gang sind sehr kurzweilig und vermitteln den Eindruck einer fast idyllischen Familienszenerie. Tja, wenn die Andeutungen auf die „Katastrophe“ nicht wären. Diese Hinweise erinnern den Leser immer wieder daran, dass nicht „alles Gold ist, was glänzt“. Und plötzlich kommt der Moment der „Katastrophe“. Die Handlung nimmt eine unvorstellbare Wendung an. In einem einzigen Moment ist das Goldmansche Familienglück verpufft. Man hat mit allem gerechnet, nur nicht damit. Das ist großartige Unterhaltung. Es fehlt nur das Popcorn, um das Kopfkino perfekt zu machen.

Fazit:
Ich bin erleichtert! Nach „Harry Quebert“ habe ich den „Baltimores“ regelrecht entgegengefiebert. Meine Befürchtungen, dass Joël Dickers neuer Roman ein Abklatsch von Harry Quebert sein könnte, haben sich nicht bewahrheitet. Ganz im Gegenteil. Die beiden Romane weisen nur sehr wenige Parallelen auf. Tatsächlich hat Dicker es geschafft, mit den Baltimores noch eine Schippe draufzulegen. Er ist ein Meister der hohen Erzählkunst. Seine sprachliche Leichtigkeit ist nicht zu übertreffen und macht jede einzelne der 510 Seiten zu einem Hochgenuss.

© Renie

 
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Helmut Pöll

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9. Dezember 2013
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Meine Befürchtungen, dass Joël Dickers neuer Roman ein Abklatsch von Harry Quebert sein könnte, haben sich nicht bewahrheitet. Ganz im Gegenteil. Die beiden Romane weisen nur sehr wenige Parallelen auf. Tatsächlich hat Dicker es geschafft, mit den Baltimores noch eine Schippe draufzulegen.
das waren zunächst auch meine Befürchtungen, @Renie . harry Quebert war ja ein rundum gelungenes Buch. Eigentlich kann man da nur enttäuscht werden. Aber Die Geschichte der Baltimores ist nochmal ein Stück vielschichtiger und auch bewegender.
 
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2. April 2017
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Tatsächlich hat Dicker es geschafft, mit den Baltimores noch eine Schippe draufzulegen.
Mir haben die Baltimores auch noch ein wenig besser gefallen als Harry Quebert.
Wobei das schwer zu bewerten Ist, weil die Geschichten doch recht unterschiedlich sind.
Danke für deine tolle Rezension! Ich bewundere es immer, wenn jemand den wesentlichen Inhalt so kompakt und treffend zusammenfassen kann, ohne zu viel vorweg zu nehmen.
Dieses Buch werde ich definitiv noch einmal lesen, es hat einen Ehrenplatz im Regal.
 
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Mir haben die Baltimores auch noch ein wenig besser gefallen als Harry Quebert.
Wobei das schwer zu bewerten Ist, weil die Geschichten doch recht unterschiedlich sind.
Danke für deine tolle Rezension! Ich bewundere es immer, wenn jemand den wesentlichen Inhalt so kompakt und treffend zusammenfassen kann, ohne zu viel vorweg zu nehmen.
Dieses Buch werde ich definitiv noch einmal lesen, es hat einen Ehrenplatz im Regal.
Danke für deine netten Worte @Literaturhexle
Ich habe mir zur Angewohnheit gemacht, meine Bücher zu verschenken. Dieses ist eines der wenigen Bücher, die ich behalten habe. Bei mir hat es auch einen Ehrenplatz im Regal ;)
 
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supportadmin

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29. Oktober 2013
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"Die Geschichte der Baltimores" von #joel dicker findet ihr auch in der Buchliste Familiengeschichten.
Wie sich Familien suchen, finden, zerstreiten, miteinander leben undundund. Wie im wahren Leben halt.
 
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